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Noemi ist sich sicher, dass sie nie schwanger werden kann. Dünne Mädchen können keine Kinder bekommen, denkt sie. Und bei küssenden Menschen im Fernseher kann sie auch kaum hinschauen. Dann passiert das Unvorhergesehene: Noemi wird schwanger — mit 17 Jahren. Neben ihren eigenen Ängsten und inneren Konflikten muss sie auch...
Noemi ist sich sicher, dass sie nie schwanger werden kann. Dünne Mädchen können keine Kinder bekommen, denkt sie. Und bei küssenden Menschen im Fernseher kann sie auch kaum hinschauen. Dann passiert das Unvorhergesehene: Noemi wird schwanger — mit 17 Jahren. Neben ihren eigenen Ängsten und inneren Konflikten muss sie auch noch durch all die Stimmen navigieren, die von aussen auf sie einprasseln. Ihre Familie, ihr Freund, die Lehrpersonen, die Ärzt*innen und sogar Unbekannte auf der Strasse — alle scheinen es besser zu wissen und scheuen sich nicht, ihr das mitzuteilen.
Ehrlich, mit bitterbösem Humor und in knallbunten Farben zeigt Wanda Dufner, wie Noemi wiederholt in eine Opferrolle gedrängt und nicht ernst genommen wird. Gleichzeitig erlaubt sie Noemi, sich durch ihren abgeklärten Erzählton von der Fremdbestimmung zu emanzipieren.
Teenager zu sein, ist nicht einfach. Ein unbeliebter Teenager zu sein, bedeutend schwieriger. Und ein unbeliebter, ungewollt schwangerer Teenager zu sein, liegt jenseits der Vorstellung alltäglichen Horrors. Es sei denn, man liest Wanda Dufners "Bauchlandung". Dann wird dieser Schrecken anrührend real.
Noemi ist 17 und leidet unter brutalem Selbsthass. Als ein...
Teenager zu sein, ist nicht einfach. Ein unbeliebter Teenager zu sein, bedeutend schwieriger. Und ein unbeliebter, ungewollt schwangerer Teenager zu sein, liegt jenseits der Vorstellung alltäglichen Horrors. Es sei denn, man liest Wanda Dufners "Bauchlandung". Dann wird dieser Schrecken anrührend real.
Noemi ist 17 und leidet unter brutalem Selbsthass. Als ein wunderschöner Mann sich ihrer erbarmt, will sie alles für ihn tun. Wenn es nach ihr ginge, würde sie gerne Händchenhalten und Selfies mit ihm machen. Stattdessen haben sie unverhüteten Sex. Er droht ihr immerhin, sie sonst zu verlassen. Und außerdem, daran hält sie sich fest, kann sie bestimmt nicht schwanger werden. Dafür ist sie zu dünn, zu unweiblich, einfach ungenügend. Eine grobe Fehleinschätzung.
Während Noemi neun Monate lang versucht, den Zustand ihrer Schwangerschaft zu verarbeiten, prasseln die Urteile ihrer Mitmenschen wie in einem Fiebertraum auf sie ein.
Erwartbar sind die Blicke und das Getuschel in der Schule, auf der Straße und im Supermarkt. Doch das ist bei weitem nicht das Schlimmste.
Regelrecht grausam sind Noemis Eltern, die ihr eigenes Glück in Gefahr sehen, und ihrer Tochter schwere Vorwürfe machen. Die Großeltern, die in ihrem christlichen Glauben keinen Spielraum für Noemi erkennen, erklären, dass Frauen die Verantwortung für die Gier der Männer tragen. Und damit auch alle Konsequenzen, die daraus entstehen können. Sonst wird Muttergottes weinen.
Die Lehrer*innen, die sich hauptsächlich aufs Belehren spezialisiert haben, sehen in Noemis Schwangerschaft einen Beweis für ihre Untüchtigkeit.
Und weiterhin kann Noemi nicht von Adi lassen. Der Kindsvater gaslighted sie nach allen Regeln der Kunst. Er beschimpft sie, umgarnt sie, erpresst sie, vergewaltigt sie.
Da wird es selbst Noemis bester und einziger Freundin irgendwann zu doof. Wenn Noemi nicht auf sie hören will und Adi endlich verlässt, kann sie ihr auch nicht mehr helfen.
Nimmt denn niemand Noemi in den Arm, schüttelt sie und umarmt sie wieder? Will ihr denn keiner dabei helfen herauszufinden, was sie selbst will, statt zu erwarten das sie anderen gefällig ist?
Diese Leidensgeschichte einer Schwangerschaft könnte ziemlich ermattend sein. Doch tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. "Bauchlandung" ist sensationell in vielerlei Hinsicht. Wanda Dufner erzählt, inspiriert durch ihre eigene Geschichte mit den Mitteln schonungsloser Subjektivität und nüchterner Betrachtung. Sie seziert ihre Geschichte, als wäre sie selbst ein besonders interessantes Exemplar einer seltenen Spezies und mischt diese gnadenlose Selbstbetrachtung mit wilden Assoziationen, die das Geschehen auf ungeahnte Weise erlebbar machen.
Gott taucht auf, ein Teufelchen reitet ihre Seele, Körperteile werden bizarr bloßgestellt, Situationen drastisch überspitzt. Manche Figur gerät zur Groteske ihrer Selbst. Ein weiterer toxischer Verehrer wird als Hund gezeichnet, der Arzt als Clown. Die Welt, wie Noemi sie erlebt, ist hässlich, ordinär, überwältigend, schrill. Das kommt nicht ohne Klischees aus wie dem vom Schwert im aufgeschlitzten Unterleib als Metapher für schlimmen Sex. Doch auch das ist gelungen, denn die menschlichen Vorstellungen bauen nun mal auf Geschichten, Bildern und Hörensagen auf. Auf dem, was uns angedroht und versprochen wird. Popkulturelle und christliche Sagenwelten vermischen sich zu einem Urwald aus Eindrücken, indem die junge Frau sich haltlos verirrt. Das ist aufwühlend, erschreckend und immer wieder sehr komisch.
Die scheinbar rau zusammengezimmerten Bilder werden den Leser*innen vor die Füße geschleudert, ganz so, wie Noemis Mitmenschen auf sie reagieren. Sie spucken ihr ihre Meinung ins Gesicht, ohne Rücksicht auf Gefühle. Als wäre Noemi keine Person mehr, sondern nur noch ein unerhörtes Gefäß. Und so fühlt sie sich auch: Ausgestoßen aus der Welt der Teenager, unwillkommen in der Welt der Mütter.
Wanda Dufner wirft ein wichtiges Schlaglicht auf das Thema Teenager-Schwangerschaft, das nicht nur die Betroffenen, sondern alle interessieren sollte. Ihre Geschichte erzählt viel über unseren Blick auf weibliche Körper. Eben erst ist Noemi zur Frau geworden. Noch lange hat sie keinen Umgang mit ihrem neuen Körper und ihrer erwachenden Sexualität gefunden. Schon wollen andere über diesen Körper bestimmen, der ihr selbst noch so fremd ist. Und innerhalb kürzester Zeit erlebt sie eine erneute Transformation und neue Zuschreibungen, die meistens brutal, im besten Fall freundlich, doch niemals selbstlos gemeint sind. Kein Wunder, dass Schwangerschaft und Mutterschaft Noemi wie ein animalischer Body-Horror erscheinen. Was wäre nötig, damit Mädchen und junge Frauen ihren Körper so wertschätzen, dass sie ihn schützen möchten vor dem Zugriff der Welt? Vielleicht ein solches Buch?
Das einzige Bild, das von Liebe erzählt, ist das letzte. Nach diesem artistischen Vollcrash hört man in diesem Moment tatsächlich die Engelein singen. Insofern ist "Bauchlandung" hoffnungsvoll. Immerhin hat Noemi als literarischer Avatar der Autorin dies alles überlebt und findet die Kraft und die künstlerische Selbstbestimmung ihre Geschichte auf umwerfende Art und Weise zu erzählen und uns alle zu erhellen.
- Mia Grau
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