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Sascha ist Halbwaise, Stiefbruder, Außenseiter. Er ist kleinkriminell und zuverlässig, von seinen Emotionen abgekoppelt und ausgesprochen liebevoll, ein Unruhestifter und feiner Beobachter. Kein Widerspruch zu viel.
Saschas letztes Schuljahr steht an. Was danach aus ihm werden soll? Er hat keine Ahnung. Männliche Vorbilder, an denen er sich orientieren kann, fehlen ihm. Sein Vater, der ein guter Kerl gewesen sein muss, starb bei einem Autounfall, als Sascha ein kleines Kind war. Er kann sich kaum an ihn erinnern. Andere Väter prügeln ihre Söhne windelweich oder spucken große Töne, während sie beharrlich Abmachungen brechen. Der ältere Freund in der Clique ist ein schlitzohriger Mistkerl. Und Lehrer und Polizisten sind doch nur alle Schattenfiguren, einem System treu, das seine Bürger*innen verraten hat, das zusammengebrochen ist und einen Scherbenhaufen an Erinnerungen und das Grundvertrauen in Fetzen hinterlassen hat.

Sascha kämpft sich durch. Von Schulstunde zu Schulstunde, von Bier zu Bier. Er passt auf seine kleine Schwester auf und stachelt sich mit seinen Kumpels zu immer waghalsigen Mutproben an. Die Gesetzte brechen sie dabei logischerweise ständig.

Auch Saschas Mutter kämpft sich durch. Kettenrauchend. Ein Knochenjob im Krankenhaus. Kein Geld auf dem Konto. Alleinerziehend mit zwei Kindern, zu denen sie eine tiefe Verbundenheit spürt. Sascha ist neben seiner raubeinigen street credibility, ein echter Familienmensch. Er liebt seine Schwester und seine Mutter und würde alles für sie tun. Er kümmert sich, ist geduldig und sanftmütig. Nur mit sich selbst nicht. Seine Emotionen hat er tief eingeschlossen: Seine Trauer über den Tod des Vaters ist nur noch Hass auf den Unbekannten, der daran Schuld trägt. Niemals wird er vergeben können.

Überhaupt: Vergebung. Kann man großes Unglück vergeben? Eine Tat, die nicht absichtsvoll und dennoch so vollständig schrecklich ist? Kann man Vergebung zurücknehmen? Muss man, um anderen vergeben zu können, bei sich selbst anfangen? Verleugnet man mit dem Vergeben die Toten? Rettet man sich damit selbst?
Und Vertrauen! Wem kann man vertrauen? Dem Staat? Dem Gesetz? Der Familie? Den Freunden? Womöglich dem Klassenkameraden, den man immer verabscheut hat? Sich selbst?

Der Ton, in dem Johannes Herwig schreibt, fängt nicht nur die Sprache der Jugendlichen und die Zeit, in der seine Geschichte spielt, so wunderbar beiläufig ein. Genauso beiläufig unterwandern große Fragen die Handlung und übernehmen mit der Zeit das Ruder – zwangsläufig und doch unaufdringlich.

Sascha lädt absichtslos und doch leichtfertig Schuld auf sich. Ein Mensch stirbt. Wieder ist es die Beiläufigkeit, die eine Paraderolle spielt. Es ist nur ein winziger Moment, eine dumme Idee, eine Übersprunghandlung oder schlechtes Timing. Doch was auch immer dazu geführt hat: Eben war alles noch so und jetzt ist es ganz anders. Die unmittelbaren Reaktionen von Sascha und seinen Freunden auf das Geschehen, die unterschiedlichen Konsequenzen, die sie daraus ziehen, fängt Herwig präzise ein. Alles dreht sich wie in einem Wasserstrudel auf die großen Fragen hin: Wem kann ich vergeben? Wem kann ich vertrauen?

Johannes Herwig beschreibt seinen Sascha mit tiefem Verständnis und absoluter Zuneigung. Seine Figur ist lebendig und aufrichtig, aufmerksam und zerrissen und auf eine hilflose Art männlich. Ohne Vorbilder und ohne Ziel ist Sascha orientierungslos. Er weiß nicht, was er anfangen soll mit diesem Leben. Letztendlich ist es die Liebe zu seiner Mutter und seiner Schwester, die ihn über Wasser hält und ihm hilft, seine schwierigste Aufgabe zu meistern: Dem Mann zu vergeben, der seinen Vater auf dem Gewissen hat und dann sich selbst.

- Mia Grau