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Was dir durch den Kopf geht, wenn deine Mutter stirbt: Ihr habt am Telefon wegen eines Kleids gestritten, du hast furchtbare Dinge gesagt, du hast ihre Nachrichten ignoriert, du hast mit einem Jungen geknutscht, anstatt nach Hause zu gehen, und irgendwann in diesen Stunden, diesen Minuten, diesen Sekunden war deine...
Was dir durch den Kopf geht, wenn deine Mutter stirbt: Ihr habt am Telefon wegen eines Kleids gestritten, du hast furchtbare Dinge gesagt, du hast ihre Nachrichten ignoriert, du hast mit einem Jungen geknutscht, anstatt nach Hause zu gehen, und irgendwann in diesen Stunden, diesen Minuten, diesen Sekunden war deine Mutter noch da – und dann nicht mehr.
Sie waren immer zwei gegen den Rest der Welt: Tiger und ihre Mutter. Dann, an einem Tag wie jedem anderen, stirbt Tiger Mutter. Jetzt ist Tiger allein auf der Welt ... und gegen diese Art von Dunkelheit kann sie nicht gewinnen. Sie muss lernen, sich mit ihr anzufreunden.
Lange waren Tiger Tolliver und ihre Mutter June eine „gut geölte, gut aussehende und gut riechende Maschine“. Sie waren wie Pech und Schwefel – bis Tiger anfingen, sich Dinge zu wünschen. Sie wollte auf dem Abschlussball tanzen. Mit Jungs knutschen. Sich was Schönes anziehen. Ins Ferienlager fahren. So wie alle...
Lange waren Tiger Tolliver und ihre Mutter June eine „gut geölte, gut aussehende und gut riechende Maschine“. Sie waren wie Pech und Schwefel – bis Tiger anfingen, sich Dinge zu wünschen. Sie wollte auf dem Abschlussball tanzen. Mit Jungs knutschen. Sich was Schönes anziehen. Ins Ferienlager fahren. So wie alle anderen eben auch. Aber ihre Mutter war zweierlei: sehr fürsorglich und ziemlich knapp bei Kasse. Das eine war also nicht finanzierbar, das andere ließ sie nicht zu, aus Angst, Tiger könne etwas zustoßen. Tigers Mutter wollte sie vor allem beschützen. „Ich werde dich nie alleine lassen!“. Das hatte sie Tiger versprochen. (Oder angedroht?) Und nun ist genau das geschehen.
Nach einem heftigen Streit ignoriert Tiger die Anrufe ihrer Mutter und knutscht mit dem Jungen, in den sie schon so lange verknallt ist. In diesem Augenblick stirbt June an einem Hirn-Aneurysma. Tiger ist plötzlich ganz alleine auf der Welt. Schuld, Scham, Trauer, Verlust und Angst peitschen auf das arme Kind ein. Sie wird in die Obhut des Staates übernommen und fortan von Einrichtung zu Einrichtung hin und her geschoben. Obwohl sie durchaus Menschen trifft, die es gut mit ihr meinen, findet sie keinen Schutzraum, in dem sie zur Ruhe kommen und sich ihrer Trauer stellen kann. Sie ist einsam. „Jeder stirbt für sich alleine“ ist die eine Erkenntnis. „Jeder trauert für sich alleine“ die andere.
Auf ihrer Odyssee begegnet Tiger Kindern und Jugendlichen, die ihr Schicksal in verschiedensten Facetten teilen. So gelingt es Kathleen Glasgow wunderbar, ihr Thema, die Trauerbewältigung, mit einer Erzählung über gejagte, vernachlässigte, einsame Kinder zu verweben. Was gibt Kindern Sicherheit? Was passiert mit ihnen, wenn ihre Familien sie durch Gewalt, Missbrauch oder Verwahrlosung im Stich lassen? Was kann der Staat tun? Was leisten Einzelne? Aber auch: Wie gehen die Kinder mit ihren Erfahrungen um? Stumpfen sie ab? Werden sie aggressiv? Stürzen sie ab? Oder raffen sie sich auf und finden einen Weg aus der Dunkelheit?
Kathleen Glasgow schreibt aus der Sicht von Tiger. Und Tiger ist eine sehr glaubhafte Teenagerin. Geradezu mühelos trifft Glasgow den Tonfall und die Denkweise eines verwirrten, traurigen, zornigen Mädchens.
Wer schon einmal getrauert hat, wer erlebt hat, welch unendliches Loch der Verlust eines geliebten Menschen reißt, der wird sich in diesem Buch entweder sehr aufgehoben fühlen oder es auf keinen Fall ertragen. Kathleen Glasgow weiß, wovon sie schreibt. Die Trauer ihrer eigenen Mutter über frühe Verluste hat Glasgows Leben geprägt, und sie musste selbst schwere Schläge einstecken. Schonungslos geht sie nun durch alle Facetten dieses bodenlosen Gefühls, von Verleugnung über Depression bis Akzeptanz. Es brodelt nur so vor Schmerz. Gleichzeitig bleibt Kathleen Glasgow unsentimental und geradezu nüchtern in ihren Beschreibungen. So vermeidet sie Kitsch und schafft Ehrlichkeit. Das bricht den Leser*innen nur umso mehr das Herz. Wer dieses Buch zu Hand nimmt, sollte auf jeden Fall ein mindestens ebenso dickes Paket Taschentücher greifen.
In der ersten Hälfte des Buches, in der Tiger in einer Art Dauerschleife der Verleugnung festhängt, hätten einige Kürzungen gutgetan. Sonst liest sich dies traurige Buch erstaunlich leicht und spannend. Dass sich am Ende durch das Dickicht von Schmerz hindurch neue Möglichkeiten für Tiger auftun, ist ein ergreifender Prozess, den die Lesenden gerne mit ihrer lieb gewonnenen Heldin bestreiten.
- Mia Grau
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