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Interview

ADRIAN POURVISEH : Das Unvorstellbare sichtbar machen

Von Helena, Lina, Finja, Mara und Sophie

Adrian Pourviseh ist ein transkultureller Weltbürger. Sohn schöner Sprachen, Bewohner vieler Städte, Enthusiast verschiedenster Disziplinen und vor allem einer, der die Menschen liebt.

Adrian Pourviseh studierte Orientwissenschaften und Entwicklungsökonomie. Er nahm an Klima-Forschungsprojekten und Seenotrettungen teil. Sein Weg führte ihn nach Marokko, Schweden, Iran, Ägypten, Namibia, Pakistan und immer wieder aufs Mittelmeer. Er schreibt Bücher über die, die von der weißen Mehrheitsgesellschaft ignoriert werden. Denn: Rassismus ist für ihn nicht akzeptabel. Seine Seenotrettungseinsätze sind für ihn Widerstand gegen rassistische Tendenzen in der Gesellschaft.

Mit dem Schüler*innen-Redaktionsteam „Frag die anderen“ sprach Adrian Pourviseh über seine Graphic Novel „Das Schimmern der See“, mit der er sichtbar machen wollte, was für alle, die an Land geblieben sind, unvorstellbar ist: Die Dramen, die sich alltäglich auf dem Mittelmeer abspielen.

 

Q
Gibt es einen Grund, warum du Seenotretter geworden bist?

A
Ich spreche Persisch und während meines Studiums habe ich für unbegleitete minderjährige Geflüchtete übersetzt. Das waren Jungs im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren, die aus Afghanistan geflohen sind. Das war 2015 und 2016, die Situation nannte man damals in den Medien „Die Flüchtlingskrise“. Ich finde, der Begriff passt nicht. Es war eine Krise der Solidarität. Denn daran hat es gemangelt in Deutschland. Ich habe durch meine Arbeit als Übersetzer einen Eindruck davon bekommen, wie unzureichend die deutschen Behörden mit der Situation umgegangen sind. Ich habe 14-jährige Jungs erlebt, die monatelang in einem Schulheim irgendwo im Wald festsaßen und immer wieder gesagt haben: „Bitte, wann können wir endlich zur Schule gehen?“ Sie wussten genau, wenn sie jetzt nicht bald eine Ausbildung anfangen, kann es sein, dass sie mit 18 zurück nach Afghanistan abgeschoben werden. In ein Kriegsgebiet, das nicht sicher ist und in dem immer wieder Leute umgebracht werden, weil sie geflüchtet sind und nun durch Abschiebung zurückkommen. Indem ich für sie gedolmetscht habe, wollte ich ihnen helfen. Dieses Erlebnis hat mich geprägt. Dann habe ich von einer Freundin gehört, die auf einem der Rettungsschiffe von den „Ärzten ohne Grenzen“ unterwegs war, der Aquarius. Ich habe eine Doku gesehen, in der meine Freundin vorkam. Vorher hatte ich noch kaum Bilder gesehen von den Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer. Erst nachdem ich diese Doku gesehen und mit meiner Freundin telefonieren hatte, habe ich verstanden, was dort wirklich vor sich geht. Also habe ich mich bei Sea-Watch beworben. Das ist eine der deutschen Nichtregierungsorganisationen, die Schiffe auf dem Mittelmeer betreiben. Und so kam es, dass ich auf dem Meer war.

Q
Hast du oder deine Familie selber etwas erlebt, dass mit Flucht oder Krieg zu tun hat?

A
Ich bin mit Geschichten von Flucht groß geworden. Mein Vater ist nach der islamischen Revolution aus dem Iran geflohen. Er musste über die Grenzen fliehen, über Kurdistan, über die Türkei. Damals war es noch möglich, dass man mit einem falschen Pass mit dem Flugzeug in die DDR eingereist ist. Heutzutage ist das nicht mehr so einfach, weil die Fluggesellschaften seit den frühen 2000ern stark dafür sanktioniert werden, wenn eine Person mit einem falschen Pass in andere Länder fliegt.

Q
Hast du den Krieg selbst miterlebt oder nur deine Eltern?

A
Mein Vater hat Krieg miterlebt, meine Mutter nicht. Ihre Mutter allerdings schon, sie ist aus Ostpreußen geflohen. In Ostpreußen haben damals viele deutschstämmige Menschen gelebt, die wegen des Krieges ihre Heimat verlassen mussten und in das heutige Deutschland migriert sind. Meine Oma war 14 Jahre alt, als sie über das sogenannte „Frische Haff“ geflohen ist, eine Bucht zwischen Polen und Deutschland, die im Winter zugefroren war. Über das Eis sind viele Menschen geflohen, viele von ihnen sind eingebrochen und gestorben. Meine Oma hat überlebt. Ihre Schwester allerdings ist kurz nach der Flucht gestorben und meine Oma war ganz alleine in Deutschland. Sie hat sehr früh angefangen zu arbeiten, genau wie heutzutage viele junge Geflüchtete.

Q
Machen sich deine Verwandte manchmal Sorgen um dich?

A
Meine Verwandten machen sich schon manchmal Sorgen um mich. Die wissen aber mittlerweile, dass sie sich nicht so große Sorgen um mein physisches, sondern eher um mein psychisches Wohlergehen machen müssen. Natürlich werden durch die Situation auf dem Mittelmeer in erster Linie die Menschen traumatisiert, die selbst flüchten und auf dieser Flucht schreckliche Dinge erleben. Sie stehen Todesängste aus und sie verlieren Menschen. Das macht aber auch etwas mit den Leuten, die in dieser Situation als Retter aktiv sind. Häufig werden auch die Menschen traumatisiert, die diese Dinge in zweiter Hand miterleben. Zu sehen, wie Menschen ertrinken oder kurz davor sind zu ertrinken, ist schrecklich.

Q
Gibt es komische Reaktionen, wenn du von deinen Reisen erzählst? Ekeln sich manche Menschen vor dem was ihr macht, oder sind einfach nicht nett zu dir, in ihren Reaktionen?

A
Ich mache viele Lesungen mit dem Buch und ab und zu sind Menschen im Publikum, die nicht gut informiert sind, ein vorgefertigtes Bild von der Situation haben und dann mit den klassischen Vorwürfen kommen. Zum Beispiel wird den Seenotretter*innen immer wieder vorgeworfen, dass sie Menschenschlepper sind und mit den wirklichen Schleppern in Libyen zusammenarbeiten. Ihr wisst das vielleicht: Libyen ist ein Bürgerkriegsland, aus dem viele Menschen ihre Flucht über das Meer beginnen, mit dem Ziel nach Italien zu kommen. Es gibt natürlich noch andere Fluchtrouten über das östliche oder westliche Mittelmeer. Aber jetzt geht es uns um die Route von Libyen nach Italien, denn das ist auch die Fluchtroute, auf der das Buch spielt. In Libyen gibt es Leute, sogenannte Schmuggler, die mit den Leuten zusammenarbeiten, die die Folterlager betreiben. In diesen Lagern werden Menschen, die aus anderen Ländern über Libyen nach Europa flüchten wollten, gefangengehalten, gefoltert und sogar ermordet. Es gibt dort also tatsächlich Menschen, die am Leid von anderen Menschen Geld verdienen. Uns wurde vorgeworfen, dass wir mit diesen Schmugglern zusammenarbeiten. Dieser Vorwurf ist mittlerweile von der italienischen Justiz zurückgenommen worden, weil es nicht genug Beweise dafür gibt. Aber es gibt einen berühmten Spruch: „Bevor eine Lüge enttarnt wird, ist sie dreimal um den Erdball gelaufen.“ Ich weiß es nicht genau, wer das gesagt hat, aber im Falle der Seenotrettung und der Debatte, die darüber in den europäischen Medien geführt wird, trifft dieser Spruch leider sehr oft zu. 

„Die Vorurteile gegenüber uns Seenotrettern halten sich auch deswegen so gut, weil die wenigsten Leute Lust haben, sich mit der Wissenschaft zu befassen.“

Ein anderer Vorwurf, den wir hören, ist, dass wir der Grund sind, warum sich Menschen in diese lebensbedrohliche Situation aufmachen: weil sie die Hoffnung haben, dass sie von uns gerettet werden können. Wenn man das so hört, macht das natürlich erst mal Sinn. Man kann sich gut vorstellen, dass die Menschen zu einem Zeitpunkt flüchten, wenn ein Rettungsschiff auf See ist. Tatsächlich gibt es aber Studien von großen Universitäten, die untersuchen, welche Faktoren, statistisch gesehen, Einfluss auf die Abfahrt von Flüchtlingsbooten haben. Und da kam heraus, dass die Präsenz von Seenotrettungsschiffen keinen Einfluss darauf hat, ob flüchtende Menschen in See stechen. Die Schmuggler setzen die Boote ins Wasser, wenn das Wetter gut ist und die Wellen in die richtige Richtung gehen. Außerdem fliehen mehr Menschen, wenn die Situation in Libyen schwierig ist, weil dort zum Beispiel Bomben fliegen. Die Flüchtlingsunterkünfte sind dann besonders schwer betroffen, weil die Milizen ihre Munitionslager oft direkt neben den Camps haben, die dann von den gegnerischen Milizen bombardiert werden. Wenn das der Fall ist, müssen die Menschen natürlich so schnell wie möglich weg. Diese Vorurteile gegenüber uns Seenotrettern halten sich auch deswegen so gut, weil die wenigsten Leute Lust haben, sich mit der Wissenschaft zu befassen. Es ist einfacher, zu glauben, dass die Seenotretter dafür verantwortlich sind, dass mehr Menschen Hoffnung haben, gerettet zu werden und es infolgedessen mehr Todesopfer gibt. Es ist schwer, diesen Vorurteilen entgegenzutreten, aber sie halten sich nicht in der Realität.

Q
Wann war klar für dich, dass du dieses Buch machen und veröffentlichen willst?

A
Ich kam von dem Einsatz zurück und war traumatisiert durch die schrecklichen Dinge, die ich gesehen habe. Ein paar Wochen später hatte ich ein Gespräch über diese Erlebnisse mit einem Verleger vom Avant Verlag. Das ist der Verlag, in dem das Buch später erschienen ist. Ich habe ihm mein Tagebuch gezeigt, dass ich auf der Reise geführt habe und er hat den Vorschlag gemacht, dass wir daraus ein Buch machen sollten. Als er das gesagt hat, ist mir klar geworden, dass er recht hat und ich genau darüber ein Buch malen und schreiben muss. Ich habe immer noch zwei, drei Monate gebraucht, um das sacken zu lassen und zu entscheiden, dass ich das wirklich machen kann und will. Ein solches Projekt nimmt ja auch sehr viel Zeit in Anspruch. Man muss sich dafür entscheiden, dass man bereit ist, sein Leben danach zu strukturieren. Insgesamt habe ich anderthalb Jahre an dem Buch gearbeitet.

„Ich habe das Medium des Comics benutzt, um sichtbar zu machen, was auf dem Meer passiert.“

Q
War von Anfang an klar, dass du ein Comic machen möchtest, oder wusstest du noch nicht ganz, wie du das Buch gestalten wolltest?

A
Das war eigentlich von vornherein klar. Ich habe nicht so ein großes Vertrauen in meine Schreibkünste gehabt und ich habe schon auf dem Schiff immer wieder meiner Erlebnisse aufgemalt und fand das sehr passend zu dem, was ich erzählen wollte. Von manchen Sachen, die während solcher Einsätze passieren, gibt es gar keine Fotos. Aber man braucht trotzdem Bilder davon. Gerade die dritte Rettung, die ich im Buch beschreibe, fällt in die Kategorie der schlimmsten Rettungen, die es auf dem Mittelmeer gibt. Bei diesen dramatischsten Rettungseinsätzen, wo überall Menschen im Wasser sind, gibt es für Fotojournalisten keine Möglichkeit, Fotos zu machen. Das liegt daran, dass jede Hand gebraucht wird. Jedes Mal, wenn so eine Rettung passiert ist, haben die Fotojournalisten ihre Kameras abgelegt und haben selbst mit anpacken, die Menschen aus dem Wasser zu ziehen. Um diese Szenen zu beschreiben, habe ich das Medium des Comics benutzt, um sichtbar zu machen, was dort passiert.

Q
Also hast du versucht, es so gut wie es geht aus deinen Erinnerungen nachzustellen?

A
Basierend auf der Erinnerung. Basierend, aber auch auf Interviews, die ich mit unterschiedlichen Crewmitgliedern geführt habe, die bei dem Einsatz dabei waren. Manche von ihnen werden im Buch namentlich benannt, andere nicht. Ich habe mir außerdem die offiziellen Berichte durchgelesen, die nach jeder Rettung erstellt werden. Da steht minutiös, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit wie viel Personen im Wasser sind, was fünf Minuten später passiert oder wann die libysche Küstenwache kommt. Bei einer Rettung ist man voller Adrenalin und nimmt die Zeit ganz anders wahr. Die Protokolle haben geholfen, mir zu vergegenwärtigen, in welcher Reihenfolge die Dinge geschehen sind. Auch die Kameraaufnahmen der GoPros, die wir alle auf dem Kopf tragen, habe ich mir angesehen. Mit diesen Mitteln konnte ich die Szenen rekonstruieren.

„Seenotrettung ist Widerstand. Und das fühlt sich gut an!“

Q
Macht es einen stärker, wenn man Menschen rettet?

A
Wie meinst du die Frage?

Q
Hat man die ganze Zeit die gleiche Motivation oder hat man vielleicht, wenn man eine Person rettet dann noch mehr Energie neue Leute zu retten? Also fühlt man sich dann eher gut oder eher nicht?

A
Darauf muss ich eigentlich zwei Antworten geben. Zum einen funktioniert man in dem Moment der Rettung eigentlich nur mit Adrenalin und denkt nicht viel nach. Natürlich ist es ein gutes Gefühl, wenn man jemanden rettet, einfach, weil dieser Mensch nicht gestorben ist. Glücklicherweise kann ich nicht sagen, wie sich der andere Fall anfühlt, denn wir haben alle Menschen retten können. Dann ist da der andere Teil der Frage: Wenn man von einem Einsatz zurückkommt, macht es einen stark oder motiviert das einen? Ich würde sagen, es gibt einem ein großes Gefühl der Selbstwirksamkeit, wenn man bei einem Einsatz dabei war, in dem Menschen gerettet werden konnten. Wir retten ja nicht nur Menschenleben, es ist auch eine Handlung, die in unserer Gesellschaft politisch diskutiert wird. 2018 erschien in der ZEIT ein Artikel unter der Überschrift „Seenotrettung: Oder soll man es lassen?“ Dieser Artikel diskutierte die Frage, ob es besser wäre, diese Menschen nicht zu retten und einfach ertrinken zu lassen. Die dahinterliegende Diskussionsebene ist eigentlich eine rassistische, denn im Endeffekt geht es um die Frage, ob nichtweiße Menschen gerettet werden sollten. So wie die Gesellschaft aufgeheizt ist, gibt es mir Hoffnung, dass ich durch das einfache dort Hinfahren dieser Politik etwas entgegensetzen kann. Es ist Widerstand. Und das fühlt sich gut an!

Q
Aber was ist, wenn man einen Menschen nicht retten kann?

A
Das weiß ich nicht, weil ich diese Situation nicht erlebt habe. Am nächsten kommt diesem Gefühl vielleicht ein Erlebnis von zwei Einsätzen aus dem Jahr 2019. Damals durften wir nicht aus dem Hafen auslaufen. Die italienischen Behörden haben uns die Ausfahrt verweigert, basierend auf juristischen Beschlüssen, die sich dann als nicht haltbar gezeigt haben. Wir waren eine vollständige Crew, 22 Leute: Ärzt*innen, Maschinist*innen, Kapitän*in und Pipapo. Wir haben jeden Morgen in den Nachrichten gelesen, wie viele Leute im Mittelmeer gestorben sind. Ein paar 100 Seemeilen südlich von uns, während wir im Hafen saßen und wussten, dass wir retten könnten, wenn es man uns nur erlaubt. Das hat sich sehr schmerzhaft angefühlt und es hat uns unglaublich wütend gemacht. Dass diese Menschen dort ertrunken sind, war kein Unglück, sondern eine politische Entscheidung.

Q
Hast du manchmal Angst, etwas falsch zu machen?

A
Ja, klar. Ich glaube, jeder Mensch hat Angst, Sachen falsch zu machen. Auch im Alltag. Wenn es um den Einsatz auf dem Mittelmeer geht, dann hatte ich vor allem bei dieser besonders schweren Rettung, die auch in meinem Buch beschrieben ist, große Angst etwas falsch zu machen. So eine Form von Angst habe ich zum ersten Mal gespürt: Eine Angst, dass durch das eigene Handeln, die eigenen Fehler, die man im Ablauf einer Rettung machen kann, viele Menschen sterben. Das ist ein Gefühl, das ich vorher nicht gespürt habe. Und es ist ein sehr gruseliges Gefühl.

Q
Welches Risiko würdest du für andere Menschen eingehen?

A
Ich weiß nicht, ob ich so viele Risiken eingehen würde. Das Problem bei der Seenotrettung auf dem Mittelmeer ist ja, dass wir als Seenotretter*innen oftmals als Held*innen dargestellt oder wahrgenommen werden, dass man denkt, wir würden sehr aufopfernd sein oder besonders große Risiken eingehen. Aber die Realität davon ist, dass wir eigentlich nur dem Protokoll folgen. Die meisten von uns würden es ablehnen, wenn man uns fragt, ob wir Held*innen sind oder ob wir große Risiken eingehen. Wir sehen das als Verantwortung, als eine politische Entscheidung. Genauso wie wenn Geflüchtete nicht zur Schule gehen können oder keine Übersetzer*innen haben, füllen wir als Zivilbevölkerung diese Lücke. Diejenigen, die wirkliche ein Risiko, eingehen, das sind die Geflüchteten selbst. Das Risiko gehen die Eltern ein, wenn sie sich fragen müssen, ob es sicherer ist, ihr Kind in das Boot zu setzen oder in dem Bürgerkriegsland zu lassen; Wenn sie entscheiden, dass es wahrscheinlich sicherer für ihr Kind ist, den Tod auf dem Meer zu riskieren, statt in Libyen zu bleiben. Das sind die Menschen, die wirklich Risiken eingehen. Wir machen unsere Arbeit.

„Es gibt einem ein großes Gefühl der Selbstwirksamkeit, wenn man bei einem Einsatz dabei war, in dem Menschen gerettet werden konnten.“

Q
Hat man manchmal auf dem Schiff Zeit für sich oder gibt es immer irgendwas zu tun?

A
Es gibt eigentlich immer was zu tun. Und wenn wir nichts zu tun haben, dann haben wir den Auftrag, schlafen zu gehen. Wir dürfen natürlich auch Freizeit haben. Dadurch, dass es so wenig Schlafenszeit auf dem Schiff gibt, haben wir die Verantwortung gegenüber der restlichen Crew, so viel zu schlafen, wie es geht. Damit wir wach und konzentriert sind, wenn es darauf ankommt. Eigentlich hat man also keine Freizeit auf dem Schiff.

Q
Gibt es Momente, wo Sie denken, dass Sie im Sturm vom Boot fallen könnten?

A
Es gibt natürlich Stürme, die so hart sind, dass die Wellen Leute von Deck spülen könnten, vor allem auf den kleinen Schnellbooten. Aber wir fahren eigentlich nicht mit dem Schnellboot raus, wenn die Stürme so stark sind, dass man von einer Welle erfasst werden kann. Es ist auch nur sehr selten der Fall, dass Geflüchtete auf dem Meer sind, wenn die Stürme so stark sind. Das passiert nur manchmal, wenn plötzlich Unwetter aufzieht, während Leute eine Überfahrt versuchen. Dann ist es besonders risikoreich, aber hauptsächlich für die Flüchtenden. Dadurch, dass wir mit sehr guter Ausrüstung auf unseren Booten sind, denken wir kaum darüber nach, dass wir über Bord gehen könnten. Immer wenn wir gefährliche Sachen machen, haben wir Rettungsprotokolle, an die wir uns halten. Ein heikler Moment ist zum Beispiel dann, wenn wir gerettete Menschen von unserem Schnellboot, auf das größere Schiff transferieren wollen. Es gibt zwischen den Booten einen großen Höhenunterschied. In dieser Situation können Menschen ins Wasser fallen. Wir sind dann alle mit Klettergurten und Seilen gesichert. Das läuft so professionell ab, dass da seltenst ein Unfall passiert.

Q
Ist Ihre Arbeit ehrenamtlich oder bekommen Sie dafür Geld?

A
Meine Arbeit ist ehrenamtlich. Ich bekomme aber die Kost und Logis gezahlt. Das heißt, ich muss nicht für meine Reisekosten oder die Essenskosten aufkommen. Und ich bekomme auch eine kleine Ehrenamtspauschale, um meine Miete zu bezahlen.

Q
Also reicht das Geld nicht, um ein normales Leben zu führen?

A
Nein, ich bekomme keinen richtigen Lohn. Es ist auch nicht so, dass ich die ganze Zeit auf See bin. Meinen Lebensunterhalt verdiene ich damit, dass ich Lesungen gebe.

Q
Arbeitest du gerade an einem weiteren Buch? Oder hast du vor, ein anderes zu schreiben?

A
Ich habe vor, ein weiteres Buch zu schreiben. Aktuell begleite ich aber erst mal den Schreibprozess eines Buches. Das ist das Buch über die Geschichte von Homayoun Sabetara, der im Gefängnis in Griechenland sitzt. Das ist ein iranischer Mann, der aus dem Iran über die Türkei nach Griechenland geflohen ist und von einem Schmuggler dazu gezwungen wurde, das Auto zu fahren, in dem auch andere Geflüchtete saßen. In Griechenland wurde ihm vorgeworfen, dass er selbst der Schmuggler sei, den er eigentlich dafür bezahlt hatte, ihn über die Grenze zu bringen, um Asyl zu beantragen. Er wurde zu 18 Jahre Haft verurteilt. Im Gefängnis hat er Tagebuch geschrieben. Seine Tochter, mit der ich befreundet bin, hat diese Tagebücher aus dem Gefängnis geschmuggelt. Wir übersetzen sie gerade und machen daraus ein Buch.

„Dass diese Menschen dort ertrunken sind, war kein Unglück, sondern eine politische Entscheidung.“

Q
Also ist die Geschichte auch echt passiert, so wie „Das Schimmern der See“?

A
Genau. Leider ist das ganz real. Ich bin vor drei Wochen erst in Thessaloniki in Griechenland gewesen und habe einem Gerichtstermin zugeschaut, bei dem Homayoun Sabetaras Fall nachverhandelt wird. Dabei geht es darum, ob er wieder freikommt. In dem ersten Verfahren gegen ihn gab es nämlich schwere Verfahrensfehler. Die Justiz in Griechenland steckt Menschen wie Homayoun systematisch ins Gefängnis, um der Europäischen Gemeinschaft zu suggerieren, man hätte die Schmuggler gefangen und würde gegen die Einwanderung etwas unternehmen. Indem man diese Menschen als Schmuggler verleumdet, hetzt man gegen Geflüchtete. Die wirklichen Schmuggler sitzen in der Türkei oder in Libyen und werden nicht gefangen genommen. Im Gefängnis sitzen Menschen wie Homayoun, die mit der Waffe am Kopf gezwungen wurden, das Boot zu steuern oder den Wagen zu fahren. Diese Menschen sind die zweitgrößte Gruppe von Gefangenen in griechischen Gefängnissen. Aber darf ich euch auch eine Frage stellen?

Q
Sehr gerne.

A
Ihr habt „Das Schimmern der See“ gelesen. Was hat das mit euch gemacht? Was sind eure Gedanken dazu?

Q
Ich fand das Buch sehr spannend. Und ich fand gut, dass dieses Thema angesprochen wurde. Ich kann mir jetzt vorstellen, dass es sehr schwer und anstrengend ist, sowas zu erleben. Da passiert viel, was man sonst gar nicht sieht. So was denkt man sich ja eigentlich gar nicht und wenn man so was liest, ist das schon krass. Wir wussten schon, dass diese Dinge passieren und dass es Seenotretter gibt. Aber wir wussten nicht genau, wie das dann wirklich ist. Jetzt können wir uns das besser vorstellen. 

A
Danke für eure Einschätzung.

Q
Vielen Dank für das tolle Interview.

A
Ich danke euch.

Sophies Version vom Schimmern der See