Auf der Suche nach dem besten Buch der Welt.
Interview

ALISON MCGHEE : Literarisches Trostspenden

Von Sven Fortmann

Sich in der glücklichen Lage zu befinden, Interviews mit Menschen führen zu dürfen, die im Gros der Fälle weitaus kreativer, talentierter und smarter sind als man selbst, ist ein Privileg. Wenn dann noch das Q&A den Gesprächsfaden über das letzte Werk verlässt und zu einem ausufernden Gespräch über das Schreiben, das Leben an sich – und alles, was dazwischen noch so Platz findet – wird, fühlt man sich am Ende beseelt und unendlich reicher, fast so, als hätte man mal eben den interstellaren Jackpot geknackt. So geschehen im späten Frühjahr dieses Jahres, als wir die Möglichkeit hatten, uns mit der amerikanischen, pulitzerpreisnominierten Autorin Alison McGhee über ihr für den Deutschen Jugendbuch Literaturpreis nominiertes Buch „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ unterhalten zu können. 

Die Gründe, warum man sich für ein bestimmtes Buch so arg begeistert, können logischerweise recht vielfältig sein. Man identifiziert sich beispielsweise mit den Protagonisten, obwohl diese meilenweit vom eigenen Leben entfernt zu sein scheinen, ist von der ungewöhnlichen Erzählstruktur begeistert oder ist nahezu perplex darüber, wie wunderbar nuanciert mit schwierigen Themen umgegangen wird. Alison McGhees „Wie man eine Raumkapsel verlässt“, vereint all diese Punkte. Und noch viel mehr.

Das Buch besteht aus 100 Kapiteln zu je 100 Wörtern, integriert 100 chinesische Segenssprüche und lässt seinen Icherzähler Will in einem ramschigen Ein-Dollar-Store (ein Dollar besteht ja bekanntlich aus 100 Cent) seine Schichten schieben. McGhee schafft es dabei, dieses vermeintlich steife, formale Konzept in eine fast schon federleichte, dabei stets melancholische und anrührende Erzählung aufzulösen, die mit nur wenigen Worten alles Wesentliche treffend einfängt und so eine Geschichte über Traumabewältigung ad hoc zugänglich macht. Und wäre das nicht bereits genug, um „Raumkapsel“ euphorisch abzufeiern, erinnert es einen als Bonus zusätzlich daran, dass es eigentlich längst an der Zeit ist, mal wieder bewusst Bowies „Space Odditiy“ zu hören. Am besten über Kopfhörer. Am besten allein. Am besten, wenn man sein gewohntes Viertel im schwindenden Tageslicht zu Fuß erkundet.

Alison McGhee

Q
Alison, vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Gespräch nimmst. Wie ist es dir in der letzten Zeit ergangen?

A
Eigentlich recht gut. Einer der ganz wenigen Vorteile, im Zusammenhang mit der derzeitigen Pandemie, ist definitiv, dass die Welt trotz der vielen Einschränkungen via Zoom enger zusammengerückt ist. Ich habe während dieser Zeit vermutlich mehr Menschen getroffen, als es unter normalen Umständen möglich gewesen wäre. Ich habe in den letzten Monaten viele digitale Workshops halten können, arrangiere diese aber recht klein, so dass eine Teilnehmerzahl von zehn Leuten nie überschritten wird und sich aufgrund dessen jeder wohlfühlt. Dort konnte ich feststellen, dass uns die Umstände, unabhängig vom gesellschaftlichen Background, ad hoc auf Augenhöhe begegnen lassen … was natürlich eine sehr angenehme Konstellation darstellt.

Andererseits wurde die Situation für meinen Geschmack fast schon autokratisch umgesetzt, es wurde viel zu wenig darüber nachgedacht, welche psychologischen Schäden auftreten können, wenn man Menschen isoliert und Kindern den Frontalunterricht nimmt. Es ist komplett idiotisch, allein wirtschaftliche Interessen als ausschlaggebendes Parameter für das Gros der Entscheidungen zurate zu ziehen … das ist vielen leider erst zu spät bewusst geworden. Das gilt für Minneapolis genauso wie für jeden anderen Ort auf der Welt.

Q
Apropos Minneapolis: In der Vergangenheit hast du ja einen fast schon nomadischen Lifestyle zelebriert … was hat dich eigentlich nach Minnesota gebracht, wo du ja nun seit bereits vielen Jahren lebst?

A
Wie du ja weißt, sind die USA riesig. Ich bin immer ganz neidisch auf meine europäischen Freunde, weil diese sich für nur für einige Stunden in die Bahn setzen müssen und von einer anderen Kultur umgeben sind, wenn sie aussteigen. Dort, wo ich wohne, bedeutet einige Stunden unterwegs zu sein, allein einige Stunden von deinem Haus entfernt zu sein … und vermutlich hat man nicht einmal den Bundesstaat verlassen. Wie auch immer, ich bin in Upstate New York aufgewachsen und in Vermont auf’s College gegangen. Irgendwann verschlug es mich nach Boston und dort habe ich dann auch, auf einer Hochzeit um genau zu sein, meinen zukünftigen Ex-Ehemann getroffen. Der lebte in Minneapolis und da ich für meine Arbeit eigentlich nur einen Computer benötige, bin ich kurze Zeit später nachgezogen. Dann bekam ich Kinder – und ließ mich wieder scheiden … und da ich meine Kinder in einem eher geborgenem Umfeld aufwachsen sehen wollte, beschloss ich schlussendlich hierzubleiben. Es wird nie wirklich mein Zuhause sein, aber ich habe im Lauf der Zeit gelernt, den mittleren Westen der USA zu schätzen. Es hat meine Sichtweise auf mein Heimatland definitiv verändert. Für viele Jahre war der mittlere Westen etwas, über das man halt fliegt, wenn man zwischen der Ost- und Westküste pendelt … das hat sich nun für mich deutlich geändert.

Q
Ich habe mich gefragt, ob sich dein Enthusiasmus für den mittleren Westen auch in „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ widerspiegelt? Die Geschichte spielt zwar in Los Angeles, es geht jedoch auch viel um Maisbrot – nicht zwingend die erste Beilage, die ich mit der Metropole in Verbindung bringen würde.

A
(Lacht) Das Maisbrot … dazu muss ich ein bisschen weiter ausholen. Mir ist es fast unangenehm zuzugeben, dass der formale Ablauf, der einsetzt, sobald ich mit dem Schreiben eines neuen Buches beginne, eigentlich nicht existent ist. Ich bin mir weder über die Story im Klaren noch über die Charaktere. Es ist ein ziemliches Chaos und alles andere als gut organisiert. Das Einzige, was mir zumindest halbwegs klar ist, ist das Gefühl, das ich dem Publikum mit dieser neuen Geschichte vermitteln möchte. Weißt du, ich liebe Poetry mehr als alles andere auf der Welt … und mit „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ war meine Intention, einen Roman zu Papier zu bringen, der sich eigentlich wie ein Poem anfühlt - was in diesem Fall implizierte, dass es keine ausufernde Geschichte sein durfte, sondern eine eher schlanke, luftige Erzählung. Ich brauchte also eine Idee, einen roten Faden … und mit ein wenig Glück wird mich dieser Faden dann zur eigentlichen Story leiten. Oh, was Du zudem noch wissen musst ist, dass ich Teenager bewundere und so wurde mein Ausgangspunkt eine Geschichte über einen Jugendlichen, dessen Freund in Schwierigkeiten steckt.

„Ich bin ein großer Fan von Illustrationen, von Fotografie, und ich frage mich immer wieder, warum es in der Erwachsenenliteratur so wenig Veröffentlichungen gibt, die innovativ mit diesen Möglichkeiten spielen.“

Q
Das ist tatsächlich noch alles ziemlich vage…

A
Allerdings. Hinzu kam, dass ich Bücher mit einer starken visuellen Komponente liebe. Ich bin ein großer Fan von Illustrationen, von Fotografie, und ich frage mich immer wieder, warum es in der Erwachsenenliteratur so wenig Veröffentlichungen gibt, die innovativ mit diesen Möglichkeiten spielen. Eines Tages verschlug es mich in einen dieser Dollar Stores (Das amerikanische Gegenstück zu unseren 1 Euro Shops - Anm. d. Red.) und dieser kurze Besuch brachte mich auf die Idee, das Buch aus einhundert kurzen Passagen zu gestalten, die wiederum aus jeweils hundert Worten bestehen … ein Dollar setzt sich ja bekanntlich aus hundert Cents zusammen. Auf der linken Seite sollte ein Image stehen, auf der rechten Seite der Text. Ich fand die Idee richtig aufregend und fing an, Fotos in dem Laden zu schießen. 

Zu Hause angekommen legte ich mir ein Dokument im Querformat an und spielte ein wenig mit dem Layout herum … und fand das Ergebnis zunächst wenig inspirierend. Also verbannte ich das Konzept zunächst in die Schublade und konzentrierte mich auf eine Methode, die ich gerne verwende, wenn ich mit einem neuen Buch beginne: Mir eine Liste mit willkürlich zusammengetragenen Gegenständen anlegen und einfordern, dass all diese Begrifflichkeiten ihren Weg ins Buch finden. Diese Liste ist dann Startplatz und Regelwerk zugleich. Zu dieser Zeit versuchte ich mich gerade an meinem ganz persönlichen Maisbrot-Rezept … und so fand es seinen Weg in die Geschichte. Ich hörte in diesem Zeitraum auch viel David Bowie. Und plötzlich hatte ich einen Teenager, der darüber am Verzweifeln ist, dass sein hausgemachtes Maisbrot ungenießbar ist. Aber warum ist er darüber so betrübt? Und warum trägt er dieses Bowie T-Shirt? Das Buch hat sich ab diesem Zeitpunkt praktisch von selbst geschrieben. (Lacht) Und somit hätten wir nun auch eine extrem weitschweifige Antwort auf deine Frage, warum Maisbrot eine so prominente Rolle im Buch spielt.

Q
Vielen Dank dafür. Ich muss bei dieser Gelegenheit gleich mal nachhaken: Wenn du dich Personen vorstellst, die keinerlei Ahnung davon haben, womit du dein Geld verdienst, stellst du dich dann als Autorin oder Geschichtenerzählerin vor?

A
Das ist in der Tat eine gute Frage! Normalerweise stelle ich mich als Autorin vor. Ich habe vor ein paar Jahren jedoch damit begonnen, in diversen Veranstaltungsorten Live Storytelling Abende abzuhalten, was mich tatsächlich dazu brachte, über meine Berufsbezeichnung nachzudenken. Meine Bücher hingegen halten oft die Balance zwischen Poesie und Plot … ach, es ist ein Dilemma. Ich denke, Autorin trifft es vermutlich am besten. Wortschöpferin klingt auch so unangenehm prätentiös.

„Vielleicht ist es eine Art Paradox: je mehr Hürden ich mir während des Arbeitsprozesses aufstellte, desto freier fühlte ich mich.“

Q
Es ist toll zu hören, wie frei du dich zwischen verschiedenen Formaten und Ansätzen bewegst. Ich kenne mittlerweile viele Autor*innen, die eine komplett ausformulierte Idee zunächst verkaufen müssen, bevor sie überhaupt den ersten Satz zu Papier bringen dürfen.

A
Ich hatte diesbezüglich vermutlich viel Glück. Ich habe zunächst immer das komplette Buch zu Ende gebracht, bevor ich es überhaupt irgendjemand vorgelegt habe. Ich hatte nie einen Vertrag, den es zu erfüllen galt. Den Druck auszuhalten, zuallererst eine Idee verkaufen zu müssen, die ich anschließend adäquat in eine Geschichte umsetzen muss … ich glaube, das käme mir einer Qual gleich. Es ist toll, frei arbeiten zu können – allerdings gibt es aufgrund dessen auch einige abgeschlossene Bücher, die ich bislang noch nicht veröffentlichen konnte. Weißt du, ich möchte einfach nur ein hoffentlich interessantes, schönes und bewegendes Buch schreiben. Das allein ist bereits genug Druck für mich. Mein Arbeitsprozess ist so chaotisch, ich wüsste nicht einmal, was ich meinen Editor pitchen sollte. “Hey, ich will da dieses Buch über einen traurigen Teenager schreiben!“. Klingt irgendwie nicht so überzeugend, oder?

Wie Du Dir sicher vorstellen kannst, gibt es in meinem Freundes- und Bekanntenkreis recht viele Autor*innen – und viele von ihnen wissen haarklein, welche Geschichte sie auf welche Art und Weise erzählen wollen, bevor sie den ersten Satz geschrieben haben. Es gibt eine klare Outline, oft sogar bereits eine definierte Anzahl von Kapiteln. Einmal hatte ich versucht, einen detaillierten Aufbau der Geschichte anzulegen, hatte versucht, mich an diesen zu halten … aber allein besagte Outline umfasste bereits 80 Seiten, was man wohl als übers Ziel hinaus geschossen bezeichnen kann.
Mit „Wie man eine Raumkapsel verlässt“, verhielt es sich anders und nach den anfänglichen Schwierigkeiten fühlte es sich an, als wäre alles in einem organischen Flow. Ich liebte es, dieses Buch zu schreiben … und dabei handelt es sich nicht um eine verklärte Nachbetrachtung. Die kurzen Textpassagen gepaart mit den chinesischen Schriftzeichen, allein das sieht bereits wunderschön aus.

Q
Ich finde es bemerkenswert, dass sich beim Schreiben dieser natürliche Flow einstellte. Die Wahrscheinlichkeit erscheint eigentlich höher, dass solch ein elaborierter Überbau – 100 Textpassagen zu je 100 Wörtern – eher einschüchternd wirkt, oder?

A
Ich weiß, aber vielleicht waren es gerade diese konstruierten Regeln, die in diesem Fall das Gegenteil bewirkten. Vielleicht ist es eine Art Paradox: Je mehr Hürden ich mir während des Arbeitsprozesses aufstellte, desto freier fühlte ich mich. Sie nahmen mir in gewisser Weise den Druck. Das Erstaunliche an diesem Überbau ist ja auch, dass er zunächst niemand aufgefallen ist. Wir waren bereits in der finalen Bearbeitungsphase des Buchs, als mein Editor noch einige Anregungen für bestimmte Kapitel vortrug. Als ich daraufhin antwortete, dass ich mich auf die Herausforderung freue, besagte Vorschläge innerhalb der 100 Wörter-Struktur umzusetzen, hat sie das Ganze erst realisiert. Ich glaube, die Tatsache, dass dieser eher strenge Überbau nicht offensichtlich ist, macht das Buch vielleicht sogar noch bemerkenswerter. Man hat diese fast schon rigide Struktur – aber es fühlt sich nicht künstlich konstruiert an. Fast wie bei einem gut ausgeführten Zaubertrick.

Q
Hast du deiner deutschen Übersetzerin Birgitt Kollmann damit nicht schlaflose Nächte bereitet?

A
Birgitt ist großartig. Ganz im Ernst, sie ist ein Genie! Sie hat das Buch sofort geliebt und war vom Start weg mehr als zuversichtlich, die Geschichte in hundert Kapiteln mit jeweils hundert Wörtern übersetzen zu können. Wir arbeiten bereits seit einiger Zeit zusammen und es ist längst überfällig, ihr endlich mal persönlich zu danken. Allerdings habe ich es bislang noch nie nach Deutschland geschafft – ein Umstand, den ich hoffentlich in diesem Herbst ändern kann.

Q
Wenn du an Kinderbüchern arbeitest, ist die Zielgruppe ja bereits klar abgesteckt. Aber wie verhält es sich mit dem Gros der anderen Bücher, die du geschrieben hast?

A
Eigentlich gibt es da keinen allzu großen Unterschied, da es mir in erster Linie um die Atmosphäre geht, die ich vermitteln will – egal um welche Altersgruppe es sich handeln mag. Welche Atmosphäre, welches Gefühl es schlussendlich ist, entscheidet sich ganz intuitiv und das gilt genau so für die Form. Wird es ein Poem? Ein neuer Roman? Keine Ahnung, ich muss das fühlen, da ich es nicht einmal für mich selbst klar artikulieren kann. Es ist, als würde die Geschichte, die ich erzählen will, bereits in einem Paralleluniversum existieren … (lacht) und genau deshalb scheint mir die Idee eines Multiverses halbwegs Sinn zu machen.
Wie beginnt man damit, ein Buch zu schreiben? Setzt man sich an seinen Schreibtisch, klappt den Laptop auf und beginnt sofort damit, das noch leere Dokument mit Worten zu füllen? Das sind Fragen, die ich nicht beantworten kann, da ich es einfach nicht weiß. Und das ist der Grund, warum ich mir während des Arbeitsprozesses diese Art von Regeln aufstelle.

Q
Lass uns kurz gezielt über „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ sprechen. Es gibt viele Dinge, die ich an dem Buch mag und eines davon ist sicherlich, dass es sich beim Protagonisten Will nicht um einen schrägen Sonderling handelt, sondern um einen ganz normalen, liebenswerten Teenager. Es erinnert uns daran, dass niemand vor Schicksalsschlägen immun ist.

A
So wie ich Will sehe, würde ich ihn als sympathischen, einnehmenden Jungen beschreiben. Er ist eine dieser charmanten Personen, die von allen gemocht wird, jemand, den man einfach gerne um sich hat. Es gibt so viele Bücher, insbesondere im Young Adult Bereich, in denen ein dezent schrulliger Außenseiter die zentrale Perspektive einnimmt … ich meine, ich kann das nachvollziehen, Adoleszenz ist einfach auch verdammt hart und spickt man eine Geschichte mit gewissen Komponenten, lindert es den Schrecken.

Weißt du, ich bin wirklich gesegnet. Ich hatte mein Leben lang Freunde und Liebe in meinem Leben. Und trotzdem ist da oft dieses Gefühl von absoluter Einsamkeit. Ich glaube, jeder kennt das, manche vergleichsweise flüchtig, für andere ist es ein permanenter Begleiter. Und genau diese Tatsache ist es, die mir einerseits Trost spendet und mich andererseits dazu bringt, mich auf Menschen wirklich einlassen zu wollen. Ja, du fühlst dich einsam, ganz egal wer du bist, ganz egal wie viel Liebe du erfährst, ganz egal, wie liebenswert du sein magst … es gibt einfach diese nie versiegende Quelle an Einsamkeit in uns. Die offensichtlichsten Beispiele dafür sind Menschen, die in der Öffentlichkeit standen und geliebt wurden … ich denke da an Anthony Bourdain, Kate Spade oder Robin Williams, die sich in jüngerer Vergangenheit dafür entschieden haben, ihr Leben zu beenden. Jeder Mensch trägt diesen Kern in sich … und darüber wollte ich in diesem Buch sprechen. Anstatt Will zu einem Misfit zu stilisieren, wollte ich ihn als jemand darstellen, der geliebt und bewundert wird. Und trotz seiner Situation ist er jemand, der den Einsamen Gesellschaft leisten möchte.

Q
Es geht in dem Buch halt nicht darum, einerseits mitten im Leben zu stehen, andererseits aber darauf pochen zu wollen, dass dieses doch bitteschön nicht zu kompliziert sein sollte …

A
Richtig. Es wäre selbstverständlich einfacher zu vermarkten gewesen, wenn ich diese Geschichte aus der Perspektive eines Außenseiters erzählt hätte … aber ich glaube, es ist gefährlich, die Vorstellung von Adoleszenz als dieses Universum von schrägen Eigenbrötlern darzustellen. Dies wäre ein verdammt schlechter Dienst an diese Altersgruppe. Mir sind viele Dinge, die in der Literatur für diese Zielgruppe – oder besser: für diese vermeintliche Zielgruppe – dargestellt werden, eindeutig zu eindimensional. Und darum wollte ich mit Will einen Protagonisten entwerfen, der komplex ist, der sich wie eine richtige Person anfühlt – und halt nicht wie eine Kiste mit angestaubten Klischees.

Q
Als wäre das Thema Suizid, und was dieser mit den Hinterbliebenen anstellt, nicht bereits schwierig genug, erfährt man im Verlauf der Geschichte, dass Wills beste Freundin vergewaltigt worden ist. Ich habe mich gefragt, ob du zunächst Bedenken hattest, ein zweites monströses Ereignis in die Story einfließen zu lassen?

A
Ja, das hatte ich tatsächlich. Es ist offensichtlich, dass Will seinen Vater sehr geliebt hat und der Trauerprozess um dessen Verlust ihm schwer zusetzt. Und nun auch noch die Nachricht, dass seine geliebte Kindheitsfreundin vergewaltigt wurde … braucht die Geschichte das wirklich? Ich hatte mich zunächst dagegen gesträubt – aber das Leben ist nun einmal so. Ich versuchte, mich dem Thema so behutsam wie irgend möglich zu nähern … falls das überhaupt möglich ist. Weißt du, als ich an dem Buch arbeitete, kam meine älteste Tochter gerade aufs College. Ich sagte ihr, dass ich sie zwar mit der Freiheit erzogen hatte, dass sie tun und lassen kann, was sie möchte, ich ihr aber trotzdem vehement davon abrate, Partys von Studentenverbindungen zu besuchen, da viele Dinge, die dort passieren, alles andere als affirmativ sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass sie trotzdem dort hingegangen ist, schließlich will sie ihre eigenen Erfahrungen auf dem Campus sammeln. Kurze Zeit später, ich arbeitete nach wie vor an „Wie man eine Raumkapsel verlässt“, las ich eines Morgens die Titelseite der New York Times … und dort wurde von einer Gruppenvergewaltigung während einer dieser frat parties auf ihrem College berichtet. Sie schrieb mir “Heute ist kein guter Tag“ und ich spüre immer noch diese Ohnmacht und unvorstellbare Wut, die sich durch meinen Körper schob. 

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits beschlossen, das Thema Vergewaltigung im Buch zu lassen und besagter Vorfall schien mein Vorgehen zu bestätigen. Dessen ungeachtet blieb eine gewisse Verunsicherung. Ich druckte das Buch aus und ließ es zunächst auf dem Tisch liegen. Meine Eltern besuchten mich an jenem Wochenende und während ich mit meinem Dad Besorgungen machte, begann meine Mom das Buch zu lesen … als wir zurückkamen, saß sie zu Tränen gerührt auf der Couch und teilte mir mit, dass dies vermutlich das berührendste Buch ist, dass ich bislang geschrieben habe. Zu sehen, welche Emotionen die Geschichte beim Leser auszulösen vermag, war genau der finale Vertrauensschub, den ich benötigte. Und das ist der Grund, warum sogar zwei schwierige Themen den Weg in ein vergleichsweise dünnes Buch fanden.

ACHTUNG!

Q
Ich möchte dich zum Abschluss dieses Gesprächs nach Deinem Podcast „Words By Winter“ fragen. Was dieser im Wesentlichen mit „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ gemein zu haben scheint, ist die Kernaussage, dass wir um Himmels willen netter miteinander umgehen sollten, oder?

A
Das ist nicht ganz falsch. Der Podcast hat ja die Tagline “Conversations, reflections, and poems about the passages of life. Because it’s rough out there, and we have to help each other through“. Ich glaube tatsächlich daran und bin davon überzeugt, dass wir einander helfen müssen. Gerade hier in den USA leben wir nach dem Prinzip der Kleinfamilie, der sogenannten nuclear family. Geografisch sind wir weit verteilt und in jedem Haushalt befinden sich die identischen Gegenstände, jeder hat ein Auto, besitzt eine Waschmaschine, einen Rasenmäher und so weiter. Jeder gibt sein Bestes, um diese Welt möglichst perfekt nachzubilden und das System, in dem wir leben, verlangt, dass man dies allein zu bewältigen hat. Meiner Meinung nach ist das grundlegend falsch. Wir sind doch alle interdependente Wesen und je mehr ich mir dessen bewusst werde, desto behutsamer gehe ich mit meinen Mitmenschen um und versuche mein Bestes, ihnen zu helfen.

Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als mein Sohn, mein ältestes Kind, nach dem College in Chicago lebte. Das Land befand sich mitten in der Rezession und es erschien nahezu aussichtslos für ihn, einen Job zu finden. Er war mental und physisch in einer desolaten Verfassung … und obwohl ich seine Mutter bin, fiel es ihm wahnsinnig schwer, sich zu öffnen und um Hilfe zu bitten. Es wäre halt gegen die amerikanische Art, Schwäche zu zeigen und nach Unterstützung zu verlangen. Stattdessen leidet man allein und in Stillschweigen. Lasst uns doch stattdessen einander helfen. Je älter ich werde, desto stärker ist es mir ein Bedürfnis, genau dies umzusetzen … und nicht allein den Menschen gegenüber, die mir sowieso nahestehen. Vermutlich hat sich das aufgrund der Pandemie und den vielen schlimmen Dingen, die sich in den letzten Jahren in den USA summiert haben, nochmals intensiviert. Also frage ich die Leute, wie es ihnen geht, wie es um ihre geistige Gesundheit bestellt ist. Allein diese Fragen gestellt zu bekommen, kann bereits helfen. Es ist für uns ganz selbstverständlich, den Hausarzt aufzusuchen, sobald wir bemerken, dass die körperliche Gesundheit Schräglage bekommen hat. Ich denke, es ist an der Zeit zu verinnerlichen, unsere psychische Gesundheit ebenso umstandslos kontrollieren zu lassen … und vielleicht kann „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ einen Beitrag dazu leisten.