Auf der Suche nach dem besten Buch der Welt.
Interview

DAVID BLUM : Im Zweifel ausprobieren

Von Sara, Roshna, Yasin, Öykü und Nick

Die Lobeshymnen überschlagen sich, wenn es um David Blums Roman „Kollektorgang“ geht. Der Roman sei ein raffiniert inszeniertes und sprachgewaltiges Gesellschaftsporträt, eine unglaublich facettenreiche und spannende Story sowie eine eindringliche Hommage an die Zivilcourage und an die Freundschaft, verspielt und radikal, intensiv und stilistisch schön. 

Wenn David Blum selbst mit ruhiger Stimme über sein Buch spricht, klingt er sehr bescheiden. Er berichtet vom Suchen und Finden, vom Zweifeln und Ausprobieren. Der Zufall hatte seine Finger im Spiel, ebenso wie persönliche Erinnerungen und die literarische Begegnung mit einer historischen Person. Und nicht zu letzt war das Schreiben von „Kollektorgang“ für David Blum ein gedanklicher Freiraum.

Der Autor traf Yasin, Roshna, Öykü, Nick und Sara zum Gespräch über seinen Roman. Die Schüler*innen konfrontieren ihn mit fundamentalen Fragen zu Kindern, Gott, Tod und der AfD. David Blum ist ein so besonnen Mensch, das man ihn gerne nach diesen Dingen fragt

Q
Was hat Sie auf die Idee gebracht, so ein Buch zu schreiben?

A
Also eigentlich zwei Sachen. Einmal hat das Buch eine ganze Menge mit mir zu tun, weil ich in einer ähnlichen Situation aufgewachsen bin, wie der Ich-Erzähler im Buch. Und zwar in einem Neubaugebiet, mit Hinterhöfen, in denen wir gespielt haben, und solch einem Kollektorgang, nachdem das Buch auch benannt ist. Das ist ein Gang, der die Neubaublöcke unterirdisch verbindet und in dem die Versorgungsleitungen, also Gas und Wasser und Wärme, untergebracht sind. Der Kollektorgang verläuft unter dem gesamten Neubaugebiet und verbindet die Häuserblöcke miteinander. Als Kinder und als Jugendliche fanden wir es lustig, ein Fenster aufzubrechen und dann da unten durchzurennen. Es war natürlich super spannend für uns, von unserem Hinterhof, auf dem wir gespielt haben, zu entfliehen, ohne dass die Erwachsenen etwas mitbekommen haben, und in diesen Gängen herumzurennen und das gesamte Neubaugebiet unterirdisch zu durchqueren. Ich hatte immer den Gedanken, dass ich über diesen Ort gerne schreiben würde. 
Die zweite Sache, die mich auf die Idee gebracht hat, war ein Buch, das ich gelesen habe. Eigentlich hatte ich über einen Fußballspieler recherchiert. Das Buch, das ich dafür gelesen habe, war aber eine Doppelbiografie über ihn und den Boxer Johann Trollmann. Johann Trollmann wuchs um 1900 auf, wurde Boxer und bekam im Dritten Reich jede Menge Probleme, weil er den Sinti und Roma angehörte. Er protestierte gegen die Diskriminierungen, die er erlebte, auf eine ganz bestimmte Art und Weise. Zu einem Kampf ging er mit blond gefärbten Haaren und weiß gepuderter Haut in den Ring. Als ich diese Szene gelesen habe, fand ich das so beeindruckend, dass ich dachte, dazu will ich unbedingt was schreiben. Und auf einmal sind diese beiden Sachen in meinem Kopf zusammengekommen, dass ich dachte: „Wie wär es denn, wenn jemand, der so ähnlich ist wie dieser Boxer, in diesem Hinterhof lebt und in diesem Gang dort unten kämpft?“ Das waren zwei ganz gegensätzliche Sachen, die auf einmal miteinander funktioniert haben. Das war der Ausgangspunkt. Und ab da ging's los mit dem Schreiben.

Q
Glauben Sie an Gott?

A
Ich würde mich als Atheist bezeichnen. Mit der Frage habe ich mich beim Schreiben des Buches aber viel beschäftigt. Die Geschichte ist ja aus der Perspektive des toten Ich-Erzählers geschrieben ist. Ich habe mich lange dagegen gewehrt, dass der Protagonist tot ist. Ich fand das selbst merkwürdig und habe mich gefragt, ob das überhaupt geht, dass der als Toter diese Geschichte erzählt. Irgendwann habe ich beschlossen, das einfach zu setzen. Was nach dem Tod passiert, ist sehr umstritten. Die verschiedenen Religionen haben da offenbar ganz unterschiedliche Antworten. Aber die Geschichte spielt in Ostdeutschland. Und in der DDR wurde die christliche Kirche zurückgedrängt. Sie spielte kaum eine Rolle und die Menschen dort waren zum größten Teil nicht gläubig. Dadurch ist die Idee davon, was mit den Menschen oder ihren Seelen nach dem Tod passiert, gar nicht so stark besetzt. Das gibt auch einen großen Freiraum, in dem ich mir ausdenken konnte, was mit einem passiert, wenn man gestorben ist. Es wäre wahrscheinlich schwieriger gewesen, wenn die Geschichte an einem Ort spielen würde, wo die christliche Glaubensüberzeugung vorherrschend ist. Da hat man schon so viele Ideen davon im Kopf, wie das sein könnte und sein müsste, und hätte viel mehr Widerstände. Aber so war das relativ einfach.

Q
Mit welchen Religionen haben Sie sich beschäftigt?

A
Ich hab mich nicht mit den Religionen beschäftigt, zumindest nicht für dieses Buch. Ich habe das eher als Freiraum gesehen. Dadurch, dass ich nicht gläubig bin und das daher auch gar nicht mit irgendwas abgleichen konnte, konnte ich entscheiden, mir einfach auszudenken, wie das Nachleben sein könnte und nach welchen Regeln es funktioniert. Zum Beispiel, dass die Toten auf dem Grabstein sitzen und sich nur mit ihrem Nachbarn unterhalten können. Oder dass man aus der Wartezeit, die man auf seinem Grabstein hat, erlöst werden kann, wenn jemand, der einem besonders wichtig ist oder dem man selbst besonders wichtig war, das Grab besucht. Das ist natürlich stark angelehnt an die christlichen Vorstellungen. Obwohl die Menschen in Ostdeutschland nicht religiös sind, halten sie trotzdem bestimmte Konventionen ein. Wir bestatten unsere Toten auf dem Friedhof, wir setzten einen Grabstein und pflegen das Grab, sodass wir einen Ort haben, den man besuchen kann.

Q
Was ist Ihre Meinung zur AfD?

A
Schwierig. Es ist natürlich gut, wenn es demokratische Parteien gibt. Aber Parteien, die die Demokratie unterminieren und eigentlich auch abschaffen wollen, sind natürlich ein großes Problem. Ich glaube nicht, dass die Partei für die Leute, die sie wählen, gut ist. Und ich glaube auch, dass es andere Probleme im Land gibt, als Menschen, die einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Da gibt es ganz andere Probleme, die man angehen könnte. Aber leider sind sehr viele Leute bereit, die AfD zu wählen.

Q
Haben Sie Angst vor dem Tod?

A
Ich würde sagen, so wie jeder wahrscheinlich. Wenn man noch ein bisschen älter ist als ihr, macht man sich etwas mehr Gedanken. Ich habe auch zwei kleine Söhne, und ich freue mich sehr darüber, dass es die gibt. Man kriegt noch mal ein anderes Verhältnis zum Tod, wenn man älter wird und Kinder hat. Und ich habe mich natürlich auch, als ich das Buch geschrieben habe, sehr damit beschäftigt, wie das so sein könnte, wenn ich sterbe und was dann als Nächstes kommen könnte.

Q
Möchten Sie wissen, wie Sie sterben?

A
Kommt darauf an. Nur, wenn es ein halbwegs angenehmer Tod ist. Aber man will ja jetzt nicht wissen, dass man einmal vom Auto überfahren wird oder dass man lange leiden muss. Vielleicht ist das eine andere Frage, aber es ist natürlich ein Problem, dass der Tod zu weit weggedrängt ist aus der Gesellschaft. Zumindest hier in der Bundesrepublik Deutschland, wo das Sterben am Rand stattfindet und alte Menschen in Altersheime ausgelagert werden. Man kann 20 Jahre alt werden, ohne dass man jemals mit dem Tod Berührung hatte. Das war natürlich noch vor 100 Jahren ganz anders. Alle haben unter einem Dach gelebt, die Kranken wurden gepflegt. Und die Toten wurden über mehrere Tage zu Hause aufgebahrt und man hat lange von ihnen Abschied genommen. Ich glaube, dass diese moderne Erscheinung, den Tod unsichtbar zu machen, nicht so gut ist. Es gibt ja auch andere Gesellschaften, die den Umgang mit den Toten ganz anders handhaben.

„Die Welt ist komplex, und dann tut es gut, sich mit diesen komplexen Themen länger zu beschäftigen. Da können Bücher helfen.“ 

Q
Lesen Sie gerne und was war das Letzte, was Sie gelesen haben?

A
Ich lese relativ gerne. Natürlich auch viele Bücher, die eher für erwachsenes Publikum geschrieben sind. Welches das letzte Buch war, das ich privat gelesen habe, kann ich gar nicht so richtig sagen, weil ich auch immer so viel Recherche-Material zwischendurch lese. Gerade lese ich auch viel für ein neues Buch, an dem ich schreibe. Darin geht’s um Hochstapler. Es ist also für mich immer schwer zu trennen, was private Lektüre ist und was ich für die Arbeit lese.

Q
Wie lange haben Sie gebraucht, um das Buch zu schreiben?

A
Das ist eine einfache und eine schwierige Frage. Es hat anderthalb Jahre gedauert, obwohl ich auch nebenbei noch halbtags im Verlag gearbeitet habe. Davor habe ich aber fünf Jahre an einem Roman über Fußball geschrieben, der dann nicht erschienen ist. Für dieses Buch hatte ich die Biografie gelesen, von der ich vorhin erzählt habe. Jetzt ist natürlich die Frage: Wann fängt die Arbeit an dem einen Buch an und wann hört die am anderen auf? Dieser Prozess ging ineinander über. Man könnte auch sagen, ich habe sechseinhalb Jahre an zwei Büchern gearbeitet und eins davon ist erschienen.

Q
Was wünschen Sie für Ihre Kinder?

A
Vorhin haben wir über die AfD gesprochen. Ich wünsche meinen Kindern, dass sie in einer freiheitlichen Gesellschaft leben können, in der sich jeder frei bewegen kann und jeder denken kann, was er will. Ich hoffe, sie werden nicht von Verboten und Leuten umgeben sein, die einem sagen, wie man zu sein hat oder was falsch und was richtig ist. Ein langes, gutes Leben wünsche ich ihnen und dass sie etwas finden, was ihnen Spaß macht, wofür sie eine Leidenschaft entwickeln können. Das wäre schon cool, wenn das klappt. Darf ich auch eine Frage stellen?

Q
Ja, klar.

A
Lest ihr überhaupt? Und wenn ja, was lest ihr so?

Q
Öykü: Ich lese gerne Bücher über Religion und Kulturen. Aber ich lese das nicht so oft. Vielleicht drei Bücher in einem Jahr. Sonst nicht.

A
Also eher Sachbücher?

Q
Öykü: Ja.
Roshna: Wenn ich das richtige Buch gefunden habe, liebe ich es zu lesen.
Yasin: Ich lese auch. Aber nur Schulbücher. (Alle lachen)

A
Ich beschäftige mich ja jeden Tag damit und arbeite in dem Bereich. Aber ich kann es verstehen, wenn man keine Lust hat zu lesen. Man muss seine Zeit dafür hergeben und es gibt so viele andere tolle Sachen, die man machen kann: Filme, Musik. Für mich hat das Lesen auch immer ein besonderer Nutzen. Es fühlt sich gut an, wenn man es geschafft hat. Es ist auch nicht mehr so schwer, wenn man die ersten 15 Minuten überstanden hat. Die Welt ist komplex, und dann tut es gut, sich mit diesen komplexen Themen länger zu beschäftigen. Da können Bücher helfen.

Q
Danke für Ihre Antworten. Es hat Spaß gemacht.

A
Dank für eure Fragen. Und auch vielen Dank fürs aufmerksame Lesen.