Auf der Suche nach dem besten Buch der Welt.
Interview

JÖRG BERNARDY : Die Zukunft der Freundschaft

Von York und Christoph

Es sind keine leichten Zeiten. Ein Verbrecher wird zum Präsidenten der USA gewählt. Superreiche verbrennen die Erde. Die Demokratie hat scheinbar ausgedient und den Menschen fällt nichts besseres ein, als sie durch Konzepte von Unterwerfung und Ausbeutung zu ersetzen. 

Vernunft, Respekt und Freundlichkeit gelten vielen als Schwäche; Unterschiedlichkeit führt zu Feindschaft; Lüge, Angeberei, Menschenfeindlichkeit und Hass werden von den Massen gefeiert; Kriege entflammen; der Klimakatastrophe wird kaum etwas entgegengestellt; Arten sterben. In diesem Sturm ist es nicht leicht, an die Menschheit zu glauben und sich nicht vor den dunklen Wolken zu fürchten, die am Himmel aufziehen.

Auch Dr. Jörg Bernardy macht sich keine Illusionen. Und doch hat er noch lange nicht aufgegeben. „Ohne euch wär's echt scheiße“ heißt sein Buch, dem die Autorin Lisa Krusche literarische Miniaturen zugefügt hat und das die Kraft menschlicher Beziehungen ergründet. Das Freundschaften nicht nur eine private Angelegenheit sind, sondern politische und weltumspannenden Dimensionen haben, erklärt er im Gespräch mit Schüler York und Zucker & Zitrone-Gründer Christoph. Der Autor und Philosoph macht deutlich, warum es uns weltweit auf die Füße fällt, dass wir andere Menschen in Freunde und Feinde einteilen, statt Freundschaften als Raum zu begreifen, in welchem wir unsere jeweiligen Unterschiedlichkeiten feiern können.

Q
York: Ich habe bei meiner Online-Recherche nicht entdeckt, wo du geboren bist. 

A
Ich bin in Düren geboren, das ist in Nordrhein Westfalen, zwischen Köln und Aachen. „Düren muss man spüren.“ (Alle lachen) Oder auch „Bitte alle Düren schließen“, das hat Michael Lentz, ein Dichter und Schriftsteller aus Düren, gesagt.

Q
York: Ich kenne die meisten Städte Deutschlands nur über deren Fußballvereine. Daher... 

A
Stimmt, Düren hat keinen Fußballverein. Zumindest keinen überregionalen. 

Q
York: Kannst du erklären, worum es überhaupt in dem Buch genau geht? Wie bist du auf die Idee für das Buch gekommen?

A
Die Idee für das Buch gab es schon lange vor dem Ukrainekrieg. Durch den Konflikt wurden das Thema und die Fragen des Buches aber noch aktueller. Ich hatte zusammen mit meiner Lektorin vom Verlag Beltz und Gelberg entschieden, dass wir unbedingt ein Buch über Freundschaft machen wollen. Es sollte um das Thema Zugehörigkeit gehen. Was macht uns aus? Was bedeutet „Zugehörigkeit“? Und da ist nun mal Freundschaft eines der wichtigsten Themen. Wenn wir darüber nachdenken, wer wir sind, dann kommt man ziemlich schnell auch zum „Wir“ und der Frage, „wer sind eigentlich meine Freunde?“ Es gibt diese schöne kleine Regel, die zwar nicht wissenschaftlich fundiert aber trotzdem anregend ist: Zeig mir deine fünf wichtigsten Freunde und ich sage dir, wer du bist. Freunde sagen ja auch viel über uns aus. Zu wem haben wir regelmäßig Kontakt? Zu wem fühlen wir uns überhaupt hingezogen? Mit wem verbringen wir unsere Zeit? Wir wollten aber kein klassisches Freundschaftsbuch machen, indem wir nur die persönliche Ebene betrachten, sondern wir wollten dem Thema mehr „Relevanz“ geben, wie man das so schön sagt. Darum haben wir in „Ohne euch wär's echt scheiße“ die politische Seite von Freundschaft beleuchtet. Es gibt dazu auch schon ein großartiges Werk von Jacques Derrida, einem französischen Philosophen. Sein Buch heißt „Politik der Freundschaft“. (York grinst) Ich sehe, du grinst schon. Genau: das Buch kann ich nicht unbedingt als Lektüre empfehlen. Es ist sehr lang und dick und sicherlich noch mal schwieriger zu verstehen als mein Sachbuch. Aber für jemanden wie mich ist es ist total inspirierend. Es ist einzigartig in der Geschichte der Philosophie, dass ein Philosoph 400 Seiten lang über Politik und Freundschaft schreibt. Wie viele Philosophen fängt er natürlich ganz vorne an, bei Aristoteles und kaut erst mal die letzten 2000 Jahre durch. Was er sagt, ist sehr spannend und wichtig, aber man kann von jüngeren Menschen nicht erwarten, dass sie das alles lesen. Deswegen wollte ich es für sie übersetzen. Und um das Ganze noch ein bisschen verdaulicher und auch literarisch ansprechender zu machen, hat meine Lektorin die Schriftstellerin Lisa Krusche gefragt, ob sie zu meinen Sachbuchtexten literarische Beiträge, kleine Miniaturen und Kurzgeschichten beisteuern will. 

„Es fällt uns weltweit wieder einmal auf die Füße, dass wir andere Menschen in Freunde und Feinde einteilen.“

Q
York: Und was denkst du, warum Freundschaften eigentlich so wichtig sind? 

A
Ich habe gerade ein spannendes Interview in der Zeit mit Yuval Noah Harari gelesen, einem der bekanntesten Historiker unserer Zeit. Und er hat das sehr schön auf den Punkt gebracht: Wir wollen einfach irgendwo dazugehören. Zu Gruppen, Vereinen oder Menschen, bei denen wir sagen: das ist meine Hood, das sind meine Leute, hier bin ich zu Hause, hier fühle ich mich wohl. Oder, wenn man es romantisch ausdrücken will: mit euch kann ich die Welt erobern, mit euch ist alles möglich. Und deswegen ist Freundschaft so wichtig. Bei diesen Menschen können wir uns auch mitten in der Nacht melden, selbst wenn wir uns jahrelang nicht gesehen haben. Ich habe zum Beispiel ein paar langjährige Freunde, einer lebt in London und eine in Bristol bzw. Bath, die sehe ich natürlich nicht mehr so häufig. Aber ich weiß genau, sobald wir uns sehen oder telefonieren, dauert es vielleicht eine Minute und schon ist das Gefühl der Verbundenheit da, das uns schon seit langer Zeit begleitet. Das gibt Halt - und ein Gefühl von zu Hause, das eben nicht an einen Ort gebunden ist, sondern an Menschen und an die Beziehungen zu ihnen. Es gibt diesen Spruch „Home is where you heart is“. Ich würde das noch weiter drehen und sagen „Home is where your relationships are“. Dein Zuhause ist da, wo deine Beziehungen sind. Dazu kommt dann noch der politische Aspekt. Es fällt uns weltweit ja wieder einmal auf die Füße, dass wir andere Menschen in Freunde und Feinde einteilen. Auch das hat Yuval Noah Harari auf den Punkt gebracht: Möglicherweise entspricht es gar nicht unserer Natur, dass wir andere Menschen in Freunde und Feinde einteilen, sondern dieses Verhalten ist erst mit der Kultur und der Zivilisation entstanden. Die ersten kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen Menschengruppen von anderen Menschen getötet wurden, waren vor ungefähr 13.000 Jahren. Das können Historiker anhand von Leichen- und Blutspuren nachweisen. Uns Menschen gibt es aber schon seit 2,5 Millionen Jahren. Möglicherweise gab es also bis vor 13.000 Jahren noch gar keinen Krieg und wir haben andere Menschen noch nicht in Freunde und Feinde eingeteilt, sondern eher in Freunde und Fremde.

Q
Christoph: Und meinst du, dass die verschiedenen Qualitäten von Freundschaft sich durch die Entwicklung von Medien verändern? Wird Freundschaft in unterschiedliche Kategorien eingeteilt? 

A
Freundschaft verändert sich seit vielen hunderten von Jahren. Im 18. Jahrhundert kam das romantische Ideal auf. Man fing an darüber nachzudenken, was einen wirklich ausmacht. Hängt unser Wesen wirklich von unserer Nation ab, dem Ort, an dem wir geboren sind? Ist unsere Herkunft unsere Identität? Man fing auch an, sich nicht mehr ausschließlich über die Religion zugehörig zu fühlen, sondern über persönlichen Beziehungen und Gefühle. Heute spielen die Digitalisierung und die sozialen Medien auf jeden Fall eine große Rolle. Ich selber bin ja mit beidem aufgewachsen. Mein erstes Handy, dieser schöne riesige Nokia-Knochen, hatte ich mit 16 und mit 17 Jahren war mein erstes Profil online. Da fing es an, dass man sich vernetzen konnte. Ich fand diesen Zugang zu anderen Leuten super. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, in der Pampa. Man fuhr 40 Minuten mit dem Bus in die nächstgrößere Stadt. Plötzlich konnte man mit Leuten aus der ganzen Welt chatten. Für mich war das eine Befreiung. Und ja, der Freundschaftsbegriff verändert sich natürlich, weil wir so viele Möglichkeiten haben, Freunde zu finden wie noch nie zuvor. Das macht enge Freundschaften aber auch kostbarer, weil diese Art von Beziehungen selten bleiben. Wir merken ja gerade, dass die Einsamkeit wächst, weil wir Menschen uns im Meer der Möglichkeiten auch verlieren können. Der Überfluss kann nämlich auch dazu führen, dass man nicht mehr weiß, was man machen soll und dann im Zweifelsfall gar nichts mehr macht. Aus diesem Grund hat vielleicht auch die Depressionsrate zugenommen. Das liegt nicht nur an Corona, das liegt an unserer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Es ist nicht unbedingt falsch, dass wir so viel online unterwegs sind. Aber unsere Fähigkeiten zur eomotionalen Echtzeit-Kommunikation und zur echten Begegnung verkümmern. Die Bereitschaft, sich wirklich auf eine andere Person einzulassen, mit allem, was uns unterscheidet und trennt, lässt nach. Die Erfahrung, auf andere zuzugehen, Menschen im Real Life kennenzulernen und uns mit ihnen auszutauschen, ist aber wesentlich für ein gutes Leben.

Q
York: Das heißt, du würdest sagen, Online-Freunde zählen nicht so viel wie Freunde im Real Life, im echten Leben?

A
Gute Frage. Eine Person, die ich nie persönlich getroffen habe, und nur online kenne, mit der ich mich unglaublich gut unterhalten kann und mit der ich viele Sachen teile, kann für mich genauso viel Wert haben, wie eine Freundschaft mit Jemanden, der in der Nachbarschaft lebt und den ich regelmäßig sehe. Aber wenn ich meine Kontakte darauf reduziere und fast nur noch online Kontakte pflege, dann verändert das etwas. Zum Beispiel in unserem Gehirn. Dazu gibt es Forschungen. Man kann messen, dass es einen Unterschied macht, wenn man sich berührt, gemeinsam in einem Raum sitzt, jemanden tatsächlich sieht und mit Gestik und Körpersprache kommuniziert. Es hat nicht zuletzt einen Einfluss auf unsere Empathie. Ich würde nicht sagen, dass Online-Freundschaften deswegen weniger wert sind, ich halte sie sogar für sehr wertvoll, weil viele sich online noch mal ganz anders öffnen und austauschen können. Weil sie sich trauen über Dinge zu reden und Erkenntnisse machen, die in einer herkömmlichen Begegnung nicht denkbar wären.

Q
Christoph: Dabei spielt doch auch die Lebensphase eine Rolle. Als Kind ist es wichtig, mit jemanden in einem Raum zu sein, zu interagieren, in echt, nicht digital. Ich glaube, später kannst du Freundschaften im digitalen Raum besser erleben. York: Der Punkt ist auch, dass im späteren Leben, dadurch, dass man weniger Zeit hat, Online-Freundschaften praktisch sind. Man hat dann ja auch deutlich weniger Freunde, als wenn man noch jugendlich ist. Als Jugendlicher ist man im Austausch mit Leuten aus der Parallelklasse und allen möglichen Leuten. Man trifft die ganze Zeit neue Leute. Deswegen ist es wichtiger, das Digitale herauszulassen, wenn du im echten Leben mehr Möglichkeiten hast, tiefere Freundschaft zu entwickeln als im Alter.

A
Ja. Es kommt auch auf die Art der Freundschaft an. Herzensfreundschaften sind eher im Real Life möglich. Zweckfreundschaften, um zum Beispiel gemeinsam zu zocken, sind auch wunderbar möglich, wenn der eine in Flensburg ist und der andere in München.

Q
York: Ich habe zum Beispiel einen Freund, mit dem ich in die Kita gegangen bin. Der ist vor fünf Jahren weggezogen. Wir haben die letzten zwei Jahre jede Woche immer ein paar Runden zusammen gezockt. Was ich entspannend fand: Diese Freundschaft war total abgeschottet von meinen anderen Freunden, die sich auch untereinander alle kennen. Ich konnte mit ihm über alles reden. Ich musste ihn aber nicht jeden Tag sehen. Manchmal habe ich keinen Bock auf jemanden, auch wenn er mein Freund ist. Aber ich muss ihn trotzdem nächste Stunde im Unterricht sehen. Das Problem hatte ich mit meinem Freund nicht. Ich konnte die Konsole einfach nicht anmachen.

A
Ja, das ist praktisch. Das ist ein großer Vorteil.

Q
York: Wo wir gerade über Zweckfreundschaften reden. Was ist, wenn man überhaupt nicht solche tieferen Freundschaften bilden kann? Das passiert ja manchen Leuten. Was soll man denn dann eigentlich tun?

A
Laut einer Studie sagt jeder zehnte Deutsche, dass er keine Freunde und schon gar keine besten Freunde hat. Diese Menschen haben ein paar Bekannte und vielleicht auch Familie, die sie regelmäßig sehen, aber keine wirklichen Freunde. Das heißt nicht zwingend, dass sie darunter leiden, sie fühlen sich nicht unbedingt einsam. Aber deine Frage war ja, was man macht, wenn man darunter leidet, dass man nicht so gut auf andere zugehen kann. Das hat natürlich viel mit einem selbst zu tun, damit wie man aufgewachsen ist. Bin ich eher schüchtern? Habe ich vielleicht sogar Vertrauensprobleme? Kann ich anderen Menschen vertrauen? Traue ich mir selber über den Weg? Und traue ich mich darüber zu sprechen, dass ich einsam bin? Es kommt bei den meisten Menschen nicht unbedingt gut an, wenn man ausstrahlt, dass man einsam ist. Alleinsein hilft nicht unbedingt dabei Freunde zu finden. Trotzdem ist es der erste Schritt, sich die Einsamkeit selbst einzugestehen und sich damit jemandem anzuvertrauen. Man sollte die Scham zulassen und die Angst, nicht dazuzugehören oder gescheitert zu sein, überwinden. Man kann sich an eine Person wenden, der man vertraut oder sich professionelle Hilfe holen. Die Anzahl der Anrufe und Chatanfragen bei der Seelsorge haben in den letzten Jahren zugenommen. Und genau dafür sind sie da, dass man einen ersten Schritt wagen kann, und wenn man ihn gemacht hat, geht man weiter, aber eben anders als vorher.

Q
York: Ein Freund von mir hat mir erzählt, dass er in der Grundschule gar keine richtigen Freunde hatte. Und um sich das nicht eingestehen zu müssen und nicht immer da draußen alleine herumzusitzen, ist er in Freundschaften hereingerutscht, die ihm nicht gutgetan haben. Es kann also auch passieren, dass man lieber die negative Option nimmt, anstatt gar keine Option zu haben.

A
Ja, genau. Dann handelt man fremdbestimmt. Man entscheidet sich dann nicht aktiv für die Person oder Gruppe, mit der man befreundet sein will, sondern man rutscht passiv in Kreise, die überhaupt nicht zu einem passen. Eine große Frage der Philosophie lautet: „Lebe ich das Leben, das mir entspricht, oder lebe ich ein Leben, das mir fremd ist?“ Führe ich also ein selbst- oder ein fremdbestimmtes Leben? Immanuel Kant sprach einmal von der Pflicht, sich nicht zu isolieren. Vielleicht könnte man auch von der „Pflicht“ oder von dem „Mut“ sprechen, selbstbestimmt auf Menschen zuzugehen, die man gut findet. Dann macht man die Erfahrung, dass man Freundschaften und das eigene Leben selbst gestalten kann. Freundschaft passiert nicht einfach, sondern wir gestalten sie selbst. Das ist unsere Aufgabe im Leben: dass wir es mutig in die Hand nehmen und selbstbestimmt leben, statt gelebt zu werden.

Q
York: Beruht dann unsere Pflicht darauf, eher eine Quality Friendship oder die Quantity Friendship zu haben? Also lieber viele Freundschaften oder wenige, dafür sehr gute Freundschaften?

A
Ganz diplomatisch und vernunftmäßig gesagt: Beides ist wichtig. Ich würde nicht das eine gegen das andere ausspielen, denn dann fangen wir an, einander abzuwerten. Dann würden wir sagen, die Person mit unglaublich vielen Freunde, hat eigentlich gar keine guten Freunde und ist oberflächlich. Oder umgekehrt, der Mensch mit wenig Freunden ist ein Einzelgänger, der sich nicht öffnen kann, der asozial ist und nicht am Leben teilnimmt. Stattdessen würde ich mich auf die wissenschaftliche Forschung berufen und feststellen, dass beides wichtig ist. Man weiß zum Beispiel, dass ein großes Netzwerk hilfreich ist, um im Leben Erfolg zu haben. Wenn wir das Leben leben wollen, das uns Freude bereitet und uns erfüllt, gehören auch Erfolg und ein entsprechendes berufliches Netzwerk dazu. Im Zweifelsfall würde ich persönlich lieber auf ein gutes Netzwerk verzichten, statt die Menschen, die mir wirklich nahestehen, zu vernachlässigen. Aber ich finde, da hat Kant eine große Weisheit ausgesprochen, wenn er sagt, es sei unsere Pflicht, uns nicht zu isolieren. Unsere Gesellschaft lebt davon, dass wir freundlich miteinander umgehen, dass wir schöne gemeinsame Abende verbringen, obwohl wir keine tiefe Freundschaft pflegen. Es geht um den wohlwollenden Austausch, darum, weltoffen und gastfreundlich zu sein. In dem Wort Gastfreundschaft steckt die Freundschaft ja drin! Diese Gastfreundschaft erlebt man immer wieder, wenn man durch andere Länder reist. Im asiatischen Raum oder überhaupt östlich von Europa, kann man als Reisender leicht Einheimischen begegnen, mit ihnen ins Gespräch kommt und man wird zum Abendessen oder vielleicht sogar zum Übernachten eingeladen. Diese Offenheit haben wir in unserer Gesellschaft auch. Nur dass wir dann eher ein Bier trinken gehen, einen Joint zusammen rauchen oder what ever. Ich bin zum Beispiel regelmäßig mit dem Hund draußen und treffe dabei immer wieder Leute und plaudere mit ihnen, mal tiefgründig, mal oberflächlich. Man redet kurz, macht einen Witz oder vielleicht sogar ein Kompliment. Ja, ich bekomme ständig Komplimente … für meinen Hund, nicht für mich. (Alle lachen) Solche Erlebnisse tun gut. Diese kleinen Begegnungen und Momente der Verbundenheit sind viel wichtiger als wir denken. Aber langfristig gedacht brauchst du deine Best Buddys.

„Wir kommunizieren nicht zu wenig, sondern einfach falsch und zu kompliziert.“

Q
York: Ich muss sagen, ich habe eine sehr große Gruppe von Freunden. Aber auch einzelne Freunde, die den Rest meiner Freunde nicht wirklich kennen. Ich persönlich finde auch, dass man eine gute Mischung haben sollte: Eine Gruppe von generellen Freunden und dann so ein, zwei, vielleicht drei richtig beste Freunde. Deswegen hat mir deine Antwort gut gefallen. Christoph: Auf jeden Fall. Eine freundliche Atmosphäre ist für qualitative Freundschaften ganz wichtig. Freundlichkeit als Nährboden. So wie ich dich erlebe, York, gehst du auf Leute zu. Das ist eine Basis. Und wenn diese Basis nicht da ist, entsteht Misstrauen, eine komische Atmosphäre, wodurch weniger qualitative Freundschaften entstehen oder gepflegt werden können.

A
Richtig, das ist die Basis oder wenn man so will, der soziale Klebstoff, der unsere Gesellschaft zusammenhält und damit auch unser persönliches Glück ermöglicht. Europa wäre nicht vorstellbar ohne eine grundsätzliche Freund(schaft)lichkeit im Umgang miteinander. Damit es so etwas wie Freundschaft unter Nationen geben kann, müssen auch die Menschen der verschiedenen Bevölkerungen miteinander befreundet sind. Allerdings haben wir einen Informations-Overload. Ich habe gerade gelesen, dass die Menge an Informationen, Signalen und Reizen, die wir an einem Tag aufnehmen müssen, so groß ist wie die, die der Durchschnittsmensch aus dem Mittelalter in seinem ganzen Leben aufgenommen hat. Das muss man sich mal vorstellen und begreifbar machen. Diese Informationen müssen wir erstmal verarbeiten. Und deswegen ist es gut, wenn wir uns einerseits nicht überfordern und darauf verzichten, mit der ganzen Welt befreundet sein zu müssen, auf der anderen Seite aber den vielen Menschen gegenüber freundlich gesinnt bleiben. Das kann man üben. Diese Fähigkeit ist uns in der deutschen Medienlandschaft jedoch abhandengekommen. Alle reden darüber wie gespalten wir sind und dass wir eine falsche Debattenkultur haben. Ich denke, dass das so nicht stimmt. Erstens sind es Minderheiten, über die wir reden. Und zweitens brauchen wir nicht mehr Gespräche, sondern weniger Gespräche. Aber dafür richtige. Wir haben schlicht verlernt, freundlich miteinander zu kommunizieren. Stattdessen promotet sich jeder selbst in den sozialen Medien oder schottet sich komplett ab. Social Media wird als Karriere-Tool genutzt, um auf sich aufmerksam zu machen und Geld zu verdienen. Häufig ist das eine Einbahnstraße. Man gibt Output, aber was die anderen so kommentieren und machen, das ist den Meisten eigentlich egal. So funktioniert weder Freundschaft noch das Leben. Wir kommunizieren nicht zu wenig, sondern einfach falsch und zu kompliziert.

Q
York: Ich muss sagen, wenn ich mit meinen generellen Freunden zusammen bin, ist das meistens eine freundlichere Stimmung als mit meinen besten Freunden. Meine besten Freunde und ich, wir kennen uns untereinander so gut, dass wir uns jeden Scheiß sagen können, aber man weiß immer, das es nicht unbedingt ernst gemeint ist. (Alle lachen) Was viele andere mir mitteilen und was man auch im Internet mitbekommt ist, das man mit seinen besten Freunden die meiste Scheiße labert, während man mit guten Freunden einfach eine entspannte Zeit hat. Das ist ein anderes Freundlichkeits-Level. Für mich ist das wichtig, so einen Wechsel zu haben. Ich glaube, Höflichkeit muss man auch gelernt haben und auch, sich den Leuten anzupassen. Ich habe noch nie erlebt, dass ich jemandem respektvoll begegnet bin und die Person dann mir gegenüber direkt respektlos war. Wenn man eine neue Person trifft und man direkt sagt: „Hallo, ich bin der und der, wie geht es denn so?“ sagt doch keiner: „Ach f*k dich!“ Ich glaube, jeder Menschen will generell freundlich sein. Nur man muss die Menschen auch ein bisschen lesen können und die Situation einschätzen können, ob man mit dem grad reden kann oder nicht.

A
Deswegen gehören Empathie und Freundlichkeit zusammen. Das heißt, man muss auch aus sich herauskommen und gucken, wie die anderen gerade drauf sind. Aber guck mal, ich toure jetzt seit ungefähr drei Jahren in meinem Freundschaftsbuch durch Deutschland und ich finde es gerade so großartig, was du gesagt hast. Das hab ich so noch nicht gehört in meinen Gesprächen bisher. Das war jetzt das beste Lob für die Zweck- und Lustfreundschaft, die ich in den letzten Jahren gehört habe. Sehr cool!

Q
Christoph: Du sprachst ja von der Politik der Freundschaft. Ursprünglich geht es ja immer ums Überleben. Im persönlichen Sinne: wenn ich alleine bleibe, verkümmere ich. Im politischen Sinne braucht es die Freundschaft auch für das geopolitische Überleben. Oder? York: Der Mensch ist ja ein Herdentier. Ohne sozialen Fähigkeiten sind wir komplett aufgeschmissen. Sonst könnte ja das ganze Leben am Computer stattfinden.

A
Allein kann niemand überleben. Das stimmt. Gerade wenn man bedenkt, wie wir auf die Welt kommen. Allein würden wir sterben. Aber auch wenn man älter wird, wollen die wenigsten dauerhaft allein sein. Es gibt eine tolle Studie, da wurden die Teilnehmer und Teilnehmerinnen gefragt, warum sie eigentlich Freundschaften führen. Nicht wenige haben gesagt: „Damit ich nicht allein bin.“ Das reicht als Basis für eine Freundschaft in der Regel nicht. Richtig gute Freundschaften führt man nicht, nur um nicht allein zu sein. Politisch sind Freundschaft auf mehreren Ebenen. Schaut man sich zum Beispiel die Gesundheit an, weiß man, dass Menschen, die gute Beziehungen führen und gute Freunde haben, in der Regel länger und gesünder leben. Außerdem wissen wir, dass Menschen, die besonders einsam sind und besonders oft von anderen Menschen enttäuscht wurden, dazu tendieren, problematisch zu wählen. Sie wählen mit höherer Wahrscheinlichkeit rechtsextreme Parteien, weil sie sich nicht zugehörig fühlen. Es gibt also politische und strategische Faktoren in Freundschaften. Die Frage ist, mit wem man sich verbündet, welchen Nutzen man davon hat und welche gemeinsamen Ziele man verfolgt. Zum Beispiel hat die Gesellschaft das zur Zeit mal wieder hochaktuelle politische Ziel, Frieden anzustreben und Kriege zu verhindern aus den Augen verloren. Schauen wir die Zahlen an, wie viel Geld weltweit gerade in Waffen und Militär investiert wird, läuft da etwas in die falsche Richtung. Wir hatten Anfang dieses Jahrhunderts eine der friedlichsten Phasen in der ganzen Geschichte der Menschheit. Damals haben wir in Deutschland nur 7 von 100 € ins Militär investiert. Aber jetzt hat sich das gedreht. Und es dreht sich weltweit. Die Menschen wählen immer mehr rechts. Und rechts zu wählen ist das Gegenteil von freundschaftlich. Denn es bedeutet, das man andere diskriminieren, nur noch für sich selbst sorgen und keine gemeinsamen Ziele mehr mit anderen verfolgen will. Dass gleichzeitig immer mehr Geld in Waffen investiert wird, macht die Entwicklung sehr gefährlich. Man darf die politische Zweckfreundschaft als Friedensmittel nicht unterschätzen. In diesem Sinne ist es auch unsere gemeinsame Aufgabe, mehr gegen soziale Ungleichheit zu tun, Armut zu bekämpfen und für Frieden zu sorgen.

Q
York: Aber 2001 gab es ja 9/11 und danach all das, was die Amis abgezogen haben. Welche Zeit meinst du denn genau?

A
Es gab, da hast du recht, eigentlich permanent Kriege. Aber die Anzahl der Konflikte ist aktuell dramatisch gewachsen. Wir haben die ganzen Folgekonflikte in Syrien, Afghanistan, Irak. Aber der Nahostkonflikt zum Beispiel war von 2000 bis 2010 viel ruhiger und entspannter als er es jetzt ist. Den Ukrainekrieg gab es nicht. Dann bahnt sich grade zwischen Taiwan und China ein Konflikt an, der bald eskalieren könnte. Und auch die Spannungen zwischen Nord- und Südkorea nehmen enorm zu. Aber man muss zum Glück nicht alle Nachrichten dieser Art konsumieren. Man sollte sich gut überlegen, wie viel Negatives man sich zumuten will und kann.

„Es sind die absichtslosen Begegnungen und spontanen Gesten, die unser Leben erst lebenswert machen.“

Q
Christoph: Das strategische Kommunizieren, also dass man sich Zeit nimmt für Freundlichkeit, wird ja auch immer schwieriger. Auch in der Politik haben sich die Kommunikationsformen verändert. Durch die Taktung des Informationsaustauschs und den Druck Entscheidungen zu treffen, durch die Frage, wie man sich und seine Skills in sozialen Medien präsentiert, wird oft verhindert, dass man mal nebeneinander sitzt, atmet und freundlich ist. Aus dem nicht-Zielgerichteten entsteht eher Freundschaft oder Freundlichkeit, als aus dem Effizienzdrang. Der ist ja schön und gut und kann natürlich auch produktiv sein, aber genauso in die falsche Richtung schießen.

A
Das ist ein systemisches und strukturelles Problem. In den Sozialen Medien werden wir alle wie Politiker und Politiker werden wie wir. Wir müssen uns ständig vermarkten, alles ist durchgetaktet und zweckorientiert. Dadurch verhindert man Spontaneität. Und diese Begegnungen finden nicht mehr statt, die erst dann möglich sind, wenn man auch mal absichtslos und ohne einen Zweck durch sein Leben läuft. Es sind die absichtslosen Begegnungen und spontanen Gesten, die unser Leben erst lebenswert machen. Und dann ist da noch dieser unsägliche Mangel an Zeit. Zeitmangel ist tatsächlich eines der größten Probleme unserer Zeit.

Q
York: Ja, aber ich muss sagen, früher hatte ich jeden Tag Zeit und ich habe mich wenig mit Leuten getroffen. Jetzt, da ich weniger Zeit habe, verabrede ich mich immer, wenn ich freihabe. Auch wenn es mal anstrengend ist und sich anfühlt wie ein Terminplan. Aber ich habe wenig Zeit, also ist die wertvoll und die muss ich nutzen. Manchmal ist Zeitmangel auch ein guter Ansporn, überhaupt was zu machen.

A
Stimmt. Ein bisschen Druck und effektive Planung sind auch gut. Insofern ist es wichtig zu verstehen, dass Effizienz und Freundlichkeit keine Gegensätze sind. Sie können auch zusammengehören. Überhaupt ist es für das eigene Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit sehr wichtig, dass wir weniger in Gegensätzen und Polaritäten denken. Stattdessen sollten wir häufiger „sowohl als auch“ denken und die Einfachheit in unser Leben einladen.

Q
York: Was für eine Rolle spielen Orte wie Schule, Arbeitsplatz oder Sportverein in Freundschaften? Vor allem, wenn man sieht, was mit älteren Menschen passiert, die gar nicht mehr so viel Austausch haben.

A
Deswegen denken Menschen immer wieder darüber nach, wie man Orte schaffen kann, an denen sich auch ältere Menschen begegnen: Parkbänke, Vereinsfeste, Dorffeste, Mehrgenerationenhäuser oder auch Festivals für ältere Menschen. Mittlerweile wird auch mit KI experimentiert. Ich arbeite für das KörberHaus in Bergedorf, hier versucht man den demografischen Wandel, also die alternde Bevölkerung und Digitalisierung zusammenzubringen. Wie können ältere Menschen vom digitalen Wandel profitieren? Warum zocken die nicht mal nachmittags und trinken Kaffee zusammen? Oder wie kann man Begegnungen auch für Ältere ins Digitale verlagern und so eine Vernetzung ermöglichen? In diesem Bereich gibt es zum Glück immer mehr Aktivitäten und Bestrebungen. Aber gerade im ländlichen Raum sind klassischen Orte wie der Fußballverein, der Sportplatz und die Kneipe unglaublich wichtig. Dort wird das menschliche Bedürfnis, auf andere Menschen zu treffen, erfüllt.

„Wir sollten Freundschaften als Raum begreifen, in dem wir unsere jeweiligen Unterschiedlichkeiten feiern können.“

Q
York: Wie siehst du die Zukunft von Freundschaften? Durch Social Media hat sich viel verändert, wie wir schon besprochen haben. Glaubst du, es wird sich verbessern oder wird es weiter in dieser Negativspirale bleiben?

A
Ich hoffe natürlich, dass die Einsamkeit nicht noch mehr zunimmt. Es hängt aber im Wesentlichen von der wirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ab, in welche Richtung wir uns entwickeln werden. Vielleicht werden wir in den nächsten Jahren noch mehr politische Spannungen erleben. Wenn ich mir anschaue, wer weltweit gerade alles bei Wahlen kandidiert, dann ist Krieg womöglich nicht vermeidbar, selbst über die Ukraine heraus hinaus und bis weit nach Europa hinein. Es gibt also sicherlich dunkle Wolken, aber ich glaube, dass Freundschaft so ein grundlegendes, menschliches Bedürfnis ist, dass sie sich nicht radikal verändern wird. Abgesehen von KI. Denn da sehe ich das Potenzial für eine radikale Veränderung. Vielleicht werden wir in Zukunft künstliche Assistentinnen und Assistenten oder KI-Avatare haben, über die wir miteinander kommunizieren. Vielleicht werden wir sogar mit Softwareprogrammen oder Robotern befreundet sein, die wir als echte Persönlichkeiten wahrnehmen. Das ist alles denkbar. Nicht in naher Zukunft, aber in den kommenden 150 Jahren wird vieles möglich sein. Es gibt ja schon Menschen, die mit Gegenständen verheiratet sind, auch mit Robotern. Möglicherweise wird die Einsamkeit zunehmen. Je nach sozialem Milieu wird das wahrscheinlich ein deutlich spürbares Problem. Aber ich hoffe sehr, dass wir es in Europa und auch weltweit schaffen, gegenzusteuern und unser System zu verändern. Ich glaube, das ist das Entscheidende. Schaffen wir es, in naher Zukunft ein Gesellschaftssystem aufzubauen, in dem wir wieder mehr Zeit haben Freundschaften zu pflegen und unsere Unterschiedlichkeit gemeinsam zu zelebrieren? Das würde ich mir wünschen. Wir dürfen Freundschaft nicht als Gleiche unter Gleichen verstehen, denn damit zementieren und erhöhen wir die Gleichheit zu einem abstrakten Ideal. Wir sollten Freundschaften als Raum begreifen, in dem wir unsere jeweiligen Unterschiedlichkeiten feiern können. Darin liegt die große Zukunft unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts, dass wir Freundschaft als etwas verstehen, das uns verbindet, obwohl wir absolut verschieden sind und genau diese Verschiedenheit feiern, weil sie uns ausmacht. Brüderlichkeit, Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit und Ähnlichkeit, das ist auch wichtig, aber für mich nicht das Entscheidende von Freundschaften.

Q
York: Vielen Dank für das tolle Gespräch.

A
Vielen Dank auch Dir. Alles Gute nach Berlin.