Auf der Suche nach dem besten Buch der Welt.
Interview

KIRSTEN REINHARDT: Bücher als Humus für freundliche Menschen

Von Levin (11) und Oskar (11)

Kirsten Reinhardt hat sich als Kind manchmal gefühlt, als würde sie nicht richtig dazugehören. In Büchern hat sie gelernt, dass das auch anderen so geht. In diesem schönen Gefühl hat sie Trost gefunden. Bis sie den Mut aufbrachte, selbst solche Bücher zu schreiben, mussten ein paar Jahre ins Land gehen.

Heute lebt die Autorin im Wedding und schreibt Bücher, zu denen sie die Inspiration auf langen Spaziergängen durch ihr Viertel oder in Zeitungsartikeln findet – und in sich selbst! Ihre eigenen Marotten, Erinnerungen und Vorlieben finden in allen möglichen Formen in ihren Büchern einen Ausdruck. Und natürlich versucht sie, mit ihren Büchern die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Man könnte sagen, ihre Bücher sollen ein Humus sein, der guten Nährboden bietet, damit freundliche Menschen darauf heranwachsen können.

Oskar und Levin trafen sich im Oktober 2023 mit der Autorin in ihrem Arbeitszimmer. Die beiden sind Teil der Schüler*innen-Redaktion von Zucker & Zitrone. In dem Gespräch, das sie mit Kirsten Reinhardt führten, waren sie so interessiert, klug und emphatisch, dass sich die Autorin tief in die Karten blicken ließ!

Oskar und Levin im Arbeitszimmer vom Kirsten Reinhard
Oskar und Levin im Arbeitszimmer von Kirsten Reinhardt

Q
Wir haben Ihr Buch „Elvis Gursinski“ gelesen. Und wollten Sie interviewen. Darf ich Sie fragen, wie Sie auf diese Idee gekommen sind? Also auf diese Mischung aus Grusel und Verzweiflung.

A
Das hast du ja schön gesagt! Also: Ihr erinnert euch bestimmt noch an den Lockdown als Corona war und man in der Wohnung eingesperrt war. Wir wohnen hier zu viert. Mein Mann, meine beiden Kindern und ich. Und ihr kennt das ja bestimmt, irgendwann fällt einem ganz schön die Decke auf den Kopf. Ich bin dann immer viel spazieren gegangen und da habe ich im Wedding dieses Haus entdeckt, das direkt neben einem Friedhof liegt. Ich gehe gern auf Friedhöfen spazieren, weil ich es immer spannend finde, die Namen zu lesen und die Geburts- und Sterbedaten. Wenn ich die lese, habe ich gleich Bilder im Kopf. Als ich dieses Haus gesehen habe, dachte ich, wie toll es wäre, jetzt in so einem Haus zu wohnen, da würden wir uns nicht so auf die Nerven gehen! Ich habe mir gedacht, eigentlich könnte ich ein Buch schreiben, das in dem Haus spielt. Dann halte ich mich wenigstens in meiner Fantasie dort auf. Ich schreibe oft Bücher, in denen ich mich gern selber aufhalten würde. Und das mit der Verzweiflung, das hast du ganz richtig erkannt. Ihn dem Buch steckt auch schon ganz schön viel Corona mit drin. Das habe ich zwar nicht geplant, aber manchmal passiert sowas im Schreiben.

„Ich sage immer, ich arbeite wie ein Komposthaufen.“

Q
Kann man also sagen, dass Sie sich aus Ihrem echten Leben ein Beispiel genommen haben, von dem Sie abgucken konnten? Also zum Beispiel das Haus in Ihrem Buch.

A
Genau. Also, bei mir ist es ist nicht so, dass der Verlag sagt: „So, Kirsten, wir brauchen ein Buch von dir für die Altersgruppe so und so, mach mal was mit Grusel.“ Ich sage immer, ich arbeite wie ein Komposthaufen. Ich gehe durch die Welt, erlebe viel und kriege viel mit. Seit 13 Jahren wohne ich im Wedding und meine Kinder gehen hier auf die Schule. Da habe ich viel kennengelernt, was ich vorher nicht kannte. Zum Beispiel Jugendwörter aus der Jugendsprache, die aus dem Arabischen und Türkischen kommen. Damit hatte ich vorher gar keine Berührung. Oder bestimmte Speisen, Getränken und so weiter. Ich nehme also die Welt um mich herum wahr. Und dann gibt es noch meine eigenen Gefühle. Daraus entsteht dann eine Geschichte aus mir heraus. Die Figuren haben alle auch ein bisschen mit mir zu tun. Sie alle haben ein Stückchen von mir in sich.

Q
Das klärt schon eine Frage, die ich aufgeschrieben hatte, ob eine bestimmte Verbindung von dem Buch zu ihren Bekannten oder Verwandten und zu Ihnen selber besteht.

A
Dalia hat ein reales Vorbild. In der Klasse meines Sohnes gab es ein Mädchen, die fand ich so cool, die war wie Dalia. Alle hatten ein bisschen Angst vor ihr. Auch mein Sohn und seine Freunde. Dieses Mädchen hatte einen Undercut und war ein bisschen stämmig und richtig stark. Mein Sohn, der damals eher schmal war, erzählte mir, dass dieses Mädchen einfach total krass ist. Und das Witzige war, wenn ich sie auf der Straße getroffen habe, war sie immer zuckersüß zu mir. Ich fand es einfach cool, dass sich so ein Mädchen durchsetzt und die Jungs in der Klasse zu ihr aufschauen.

Q
Wie sind Sie auf die Namen gekommen? Ich meine, wenn die Charaktere jetzt Peter, Manfred und Heinz hießen würden, wäre das Buch ja bestimmt ganz anders.

A
(lacht laut) Also da wäre ich gespannt, wie das aufgenommen werden würde. Da würde ich denken, das Buch kommt aus den 50er Jahren. Den Namen „Elvis Gursinski“ hatte ich einfach so im Kopf. Elvis Gursinski hat für mich eine Komik im Namen. Elvis ist ein amerikanischer Name. Man denkt natürlich gleich an den Musiker – ein großes Erbe, so ein Name! Und Gursinski erinnert mich an meine Großmutter, die Rogalski hieß mit Nachnamen, der Name klingt für mich fast ein bisschen niedlich, freundlich, nicht pompös. In meiner Familie gab es immer das Wort „gurkig“ für etwas, was nicht so gut gelungen ist. Elvis Gursinski, das klingt nach jemanden, der schnell nicht ganz ernst genommen wird und es hat diesen Gegensatz im Namen - großer Vorname, ganz normaler, netter Nachname.

Q
Der Vater von Elvis sagt aber auch, dass der Name Elvis ihm die Power von Elvis Presley und Elvis Costello geben soll.

A
Genau. Damit er die Kraft von zwei Elvissen hat. Aber davon merkt Elvis leider gar nichts. Ich wollte ja, dass er einer ist, über den sich andere Kinder lustig machen, der ein bisschen rausfällt und es schwer hat. Und das ist mit so einem Namen vielleicht eine gute Vorlage. Oft löst der Klang von Sprache bei mir ein Gefühl aus. „Elfriede Schumschill“ ist auch so ein Name, der mir einfach eingefallen ist und der sich für mich einfach gut anhört. Das hat so einen schönen, gemütlichen, einladenden Klang, fast wie eine Umarmung. Bei al Nour habe ich ganz viel überlegt. Ich habe ja keinen türkischen oder arabischen Hintergrund, aber ich wollte einen Namen finden, der authentisch ist. Wenn zum Beispiel jemand in der Türkei ein Kinderbuch schreibt, in dem ein deutsches Kind vorkommt, und er nennt das Kind Adolf, weil er denkt, das sei ein normaler deutscher Name, dann würden wir alle denken, dass er sich vorher lieber informiert hätte. Und so habe ich das auch gemacht. Al Nour heißt „das Licht“. Das fand ich schön, weil Dalia ein Licht in Elvis Leben bringt.
Ein anderes Beispiel ist der Name Rambo Zibell. Rambo, so hieß der Kampfhund meines Nachbarn Herrn Zibell. Herr Zibell war ein wahnsinnig freundlicher alter Mann, der bei uns im Haus wohnte. Wir haben Rambo immer heulen hören, wenn Herr Zibell einkaufen war.
Man muss ja auch immer vorsichtig sein, weil jeder Name ein Klischee aufmacht. Es gibt eine Szene im Buch, in der ich erzähle, wie krass Dalia ist, dass selbst die krassesten Sechstklässler Angst vor ihr haben. In dieser Szene ringt sie einen Jungen zu Boden. Ich habe ewig überlegt, wie dieser Junge heißen soll. Er wird nur einmal benannt, aber wie nenne ich diesen Jungen, ohne gleich eine ganze Gruppe von Kindern zu beleidigen, weil der Name für eine bestimmte Gruppe von Kindern steht? Wenn ich den Jungen zum Beispiel Janosch nenne, dann wird eine bestimmte Gruppe von Leuten zu Boden gerungen. Dann ist mir der Name Sander eingefallen. Ich kenne niemanden, der Sander heißt und weil er so selten ist, entspricht der Name keinem Klischee.

Q
Dalia kriegt ja immer Aufgaben von ihrer Großmutter und hat immer ihre Hosentaschen voll mit irgendwelchem Kram. Ist die Großmutter eine Schamanin, eine Art Hexe?

A
Ich habe mal das Ladenschild einer Stadt-Schamanin gesehen. In Berlin gibt es ja wirklich alles! Diese Stadt-Schamanin hat mich interessiert! Sie hat alle möglichen Dienstleistungen angeboten, bei Liebeskummer, Rückenbeschwerden oder spirituellen oder emotionale Leiden. So eine Frau wollte ich auch in einem meiner Bücher vorkommen lassen. Aber nicht als komische Hexe, sondern als eine Person, die einfach da ist und den Leuten zuhört. Manchmal hat man Beschwerden und braucht jemanden, der einem zuhört und mit altem überlieferten Wissen helfen kann. Wie eine Oma, die einem ein komisches Gebräu kocht, das sie aus ihrer Kindheit kennt und das gegen Halsschmerzen hilft.

Q
Dieses Buch ist ja ganz schön detailreich. Wie lange hat es gedauert, es zu schreiben.

A
Gute Frage. Also ich arbeite immer mehrere Jahre an einem Buch. Ich trage die Geschichte lange in mir herum, bevor ich anfange, sie zu schreiben. Wenn ich zu früh anfange, wird es nicht so richtig. Das Schreiben selbst dauert ungefähr ein Jahr. Ich bleibe schon mal stecken und dann gebe ich das Buch meinem Mann. Er sieht, was ich nicht sehe, weil ich mich gerade verrannt habe. Dann sprechen wir darüber und überlegen gemeinsam weiter. Wenn ich etwas geschrieben habe, das nicht richtig passt, muss ich herausfinden, was die Figuren wollen.

„Wenn ich früher ein Buch gelesen habe, in dem andere ähnliche Probleme hatten, wie ich, dann habe ich mich immer weniger allein gefühlt.“

Q
Der Vater von Elvis ist ja Türke und deswegen heißt zum Beispiel das Eichhörnchen, Elvis einziger Freund, Küçük. Das bedeutet „klein“ auf Türkisch. Ich habe mich gefragt, ob der Vater vielleicht depressiv ist, er wirkt immer so komisch?

A
Ich habe das gar nicht gemerkt, als ich das geschrieben habe. Aber dann habe ich in der Rezension gelesen „Elvis Gursinski wohnt bei seinem depressiven Vater“. Da dachte ich: „Oh, das hört sich aber ganz schön heftig an! Aber, Ja! Das ist wahr.“
Ich hatte nicht den Plan, ein Buch mit einem depressiven Vater zu schreiben. Wahrscheinlich hatte ich während Corona selber eine kleine Depression und wusste das gar nicht. Ich habe das Thema in das Buch hineingeschrieben, ohne es zu benennen und habe andere Wörter dafür gefunden, wie dass der Teppich ihn verschlingt.

Q
Also das Thema Depression haben Sie eher unbewusst hineingeschrieben. Aber das Traurige, das Sie beschreiben, das ist etwas, was jeder versteht.

A
Ja, ich habe mich bemüht. Elvis erzählt die Geschichte ja nicht aus der Ich-Perspektive. Aber ich habe versucht, nah an ihm zu erzählen. Er würde ja nicht sagen: „Mein Vater hat eine Depression und liegt auf dem Teppich.“ Vor allem, weil der Vater ja offensichtlich auch nicht bei einer Ärztin oder beim Arzt war und die Diagnose bekommen hat und behandelt wird, sondern er liegt halt traurig auf dem Teppich herum. Es wird einfach so beschrieben, wie es ist. Es gibt viele Kinder, deren Eltern mit Depressionen zu tun haben oder in deren Familie nicht alles rund läuft. Wenn ich früher ein Buch gelesen habe, in dem andere ähnliche Probleme hatten, wie ich, dann habe ich mich immer weniger allein gefühlt. Ein schönes Gefühl. Ich will keine perfekte Welt vorgaukeln, in der alles lustig und super ist. Ich hätte keine Lust so ein Buch zu schreiben und ich hätte auch keine Lust es selber zu lesen.

Q
Soll man, wenn man Ihr Buch liest, ein bisschen Mitleid mit Elvis entwickeln?

A
Das ist eigentlich nicht mein Ziel. Ich war früher immer total schüchtern. Ich habe mich auch gern mal hinter anderen versteckt. Ich wollte nicht auffallen und geärgert werden. Genau so ist es bei vielen meine Figuren: sie fallen ein bisschen raus. Ich fände es schön, wenn alle Personen gemocht werden, auf ihre Art. Es wäre doch toll, wenn die Menschen empathisch wären mit Anderen und ihren anderen Lebenssituationen und wenn man sich in seiner eigenen Merkwürdigkeit angenommen fühlen könnte. Es sind doch alle Menschen auf ihre Art ein bisschen komisch und das ist okay so!

Q
An einer Stelle gibt Dalia ein Statement ab und sagt: „Elvis, das ist der Grund, wieso ich dich so cool finde. Weil du so anders bist.“ Davor wird in dem Buch immer beschrieben, dass er Probleme hat, weil er anders ist. Dann sagt sie: „Aber das ist doch cool, dass du anders bist.“

A
Habt ihr schon die Geschichte von Ladislaus Skappo gelesen? Ladislaus Skappo ist einer der Verstorbenen auf dem Friedhof, um dessen Grab Elvis sich kümmert. Die Idee für diese Figur habe ich aus einem Zeitungsartikel. Im Tagesspiegel wurde die Geschichte eines Arbeiters aus Rumänien erzählt. Er ließ seine Familie zurück, um hier beim Aufbau eines Luxus -Kaufhauses mitzuarbeiten. Er hat für seine Arbeit keinen Lohn bekommen und ist inzwischen obdachlos. Es gab sogar Leute, die versucht haben, diesen Lohn für ihn zu erstreiten. Aber die Firma war so geschickt und hat es mit ihren Anwälten geschafft, dass der Mann nicht bezahlt wurde. Mich nimmt so eine Ungerechtigkeit immer richtig mit. Dann ist es mein Weg, dass ich das in eine Geschichte hineinschreibe, um auf so etwas aufmerksam zu machen. Ich denke, die Kinder, die so eine Geschichte lesen, werden bestimmt später keine Arbeitgeber, die ihre Angestellten ausbeuten. Das ist so meine Hoffnung. (lacht)

Q
Elfriede Schumschill ist ja sozusagen Elvis` Lieblingstote. Mit ihr führt er ja so eine Art „Halbselbstgespräche“. Ist es Elvis Fähigkeit, mit den Toten Verbindungen aufzubauen? Oder ist er abergläubisch? Oder ein bisschen verrückt?

A
Ich denke, das zu beurteilen würde ich jedem selbst überlassen. Aber in meiner Vorstellung hat er wirklich diese Fähigkeit. Es gibt ja manche Leute, die besonders gut mitkriegen, wie andere sich gerade fühlen. Kennt ihr vielleicht auch Leute, die ein bisschen mehr spüren?

Q
Mein Papa erzählt mir manchmal, dass er das Gefühl hat, dass meine tote Oma probiert, mit ihm zu reden.

A
Ja! So was hört man öfter, oder? Ihr kennt das bestimmt auch in weniger traurigen Fällen. Ihr denkt grade an eine Person und in dem Moment kriegt ihr eine SMS oder die Person ruft an. Deswegen habe ich auch dieses „Telepafon“ ausgedacht, mit dem Madame al Nour kommuniziert. Immer wenn mir so etwas passiert, denke ich, das ist jetzt aber „alnour-mäßig“.
Mein Vater zum Beispiel war joggen und hat plötzlich gespürt: „Ich glaube, jetzt ist mein Enkel geboren.“ Und das hat gestimmt!

„Es sind doch alle Menschen auf ihre Art ein bisschen komisch und das ist okay so!“

Q
Madame al Nour hat immer ganz viele Ringe an den Händen und ein Totenkopfring, den liebt sie besonders. Warum?

A
Ich liebe alte, exzentrische Damen, denen man ihre bewegte Vergangenheit ansieht, sehr. Als so eine habe ich mit Madame al Nour vorgestellt. Als eine freiheitsliebende, coole Frau, die in den 70er Jahren nach Westberlin kam und im wilden Nachtleben unterwegs war und sich hier ihren Platz erobert hat. Sie trägt ja auch Cowboystiefel und eine Leopardenhose. Trotzdem ist sie glamourös, auf eine etwas altmodische und inzwischen wohl auch etwas unkorrekte Arte und Weise, mit ihrem sprechenden Pelzkragen. Der Totenkopfring ist für mich einerseits Rock ’n’ Roll hat aber auch etwas mysthisches und zeigt, dass sie quasi in „beiden Welten“ zu Hause ist, im Dies- und im Jenseits. Das Witzige ist: Kurz nach Beendigung des Buches habe ich genau so einen Ring in einem Laden gefunden - jetzt sehe ich ein kleines bisschen aus, wie Madame al Nour.

Q
Als Sie das Buch geschrieben haben, wie haben Sie sich Elvis vorgestellt?

A
Ich zeichne meine Figuren immer. Ich habe ein Buch, in das ich alles zeichne. Da könnt ihr sehen, wie ich mir Elvis vorstelle. Klein, schmal. Ein bisschen wie du, Levin: die Haare vor das Gesicht. Dunkle Haare. Außerdem sehr feinfühlig, schüchtern - innen also ein bisschen so, wie ich als Kind war.

Kirsten Reinhardts Skizzenbuch – am Finger: der Totenkopfring!

Q
Haben Sie die Bilder im Buch selber gezeichnet? 

A
Nein, das hat Tine Schulz gemacht. Sie ist die Illustratorin und sie hat mir sogar die ganzen Originalbilder geschenkt! Ich mag ihre Zeichnungen sehr, nur mit ihrer Darstellung von Dalia war ich nicht ganz einverstanden. Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass sie arabischer aussieht, aber das war dann leider zu spät, um noch etwas zu ändern. 

Q
Ich bin auch Iraker, aber das sehen mir die meisten nicht an.

A
Ah! Das sehe ich nicht, das stimmt. Vielleicht ist das auch ein Vorurteil von mir, dass sie nicht arabisch aussieht. Da hast du mich gleich erwischt! (lacht) Ich habe bei Dalia tatsächlich auch an eine ehemalige Mitschülerin gedacht. Ihre Mutter war Japanerin, der Vater kam auch aus dem Irak. Und ich habe bei Dalias Aussehen ein bisschen an diese Mitschülerin gedacht. Auf jeden Fall habe ich Dalia weniger lieblich vorgestellt. Ohne die Stupsnase.

„Ich denke, die Kinder, die so eine Geschichte lesen, werden bestimmt später keine Arbeitgeber, die ihre Angestellten ausbeuten. Das ist so meine Hoffnung.“

Q
Schreibe Sie gerade an einem Buch, oder habe Sie vor bald eines zu schreiben?

A
Ja, ich habe vor eins zu schreiben. Eigentlich sollte ich gerade schreiben, aber ich bin noch nicht so weit. Hinter euch sind ein paar Bilder, die ich gezeichnet habe. Auch da habe ich meine Figuren gemalt, um mich ihnen zu nähern, und um ein paar Eigenheiten herauszufinden. Das wird ein Buch, das ganz fröhlich sein soll und in dem es fast nur weibliche Figuren gibt. 

Q
Und haben Sie eine Vorstellung davon, worum es in dem Buch gehen wird? 

A
Es spielt am Meer. Und es spielt auch wieder in einem Haus, auf einer Klippe. Mein Mann meinte einmal, ich mache Immobilien-Literatur. Alle meine Figuren wohnen immer in großen Häusern. Ich will einfach gerne in meiner Fantasie in einem großen Haus wohnen.

Q
Wie ist es denn eigentlich, so eine Autorin zu sein? Wie ist ihr Alltag? Und werden Sie auf der Straße oft angesprochen? 

A
Überhaupt nicht. Ich bin ja auch überhaupt nicht bekannt. Ich schreibe sehr langsam und auf Social Media verbreite ich mich auch nicht mehr, ich habe das so gehasst, ich krieg das einfach nicht hin… Aber vielleicht würde das sowieso keine Rolle spielen. Wenn man nicht gerade J.K. Rowling ist, verschwinden die meisten Autoren hinter ihren Figuren. In dieser großen Literaturszene wird Kinderliteratur auch als nicht so wichtig angesehen. Dabei ist es genau die gleiche Arbeit, ob man nun für Kinder schreibt oder für Erwachsene. Aber weil es für Kinder ist, wird es so betrachtet, als wäre es nicht so wertvoll. Das ist ja leider in vielen Bereichen so, in denen Leute etwas für Kinder machen. Ich finde das total kinderfeindlich oder eher menschenfeindlich. Aber um auf deine Frage zurückzukommen, mein Alltag ist total unterschiedlich. Ich bin wahrscheinlich auch Autorin geworden, weil ich gerne für mich bin und nicht gerne von außen gesagt kriege, wann ich wo sein muss. Bevor meine Kinder in die Schule kamen, konnte ich zum Beispiel lange schlafen oder tagsüber im Kaffee sein und Leute beobachten und spazieren gehen und Sachen schreiben und zeichnen. Wenn mir nichts einfällt, gehe ich zum Kühlschrank und esse oder hängen mal Wäsche auf, wenn ich mich bewegen muss. 

Q
Wo haben Sie denn Ihre besten Ideen? 

A
Eigentlich immer, wenn ich in Bewegung bin, beim Radfahren, spazieren gehen, in der S-Bahn. Wenn ich richtig angefangen habe, dann kommen die Ideen eigentlich überall, aber am besten in Bewegung. Und beim Schreiben selbst! Ich weiß nicht, ob ihr selber schreibt. Aber ihr kennt ja bestimmt das Gefühl, wenn ihr irgendwas macht, was ihr gerne tut, dann merkt ihr gar nicht, wie die Zeit vergeht. Man ist ganz drin in dem, was man tut. Wenn ich in so einem Flow bin, dann machen meine Figuren irgendwas und ich bin dann selber erstaunt. 

Q
Sind Sie dann viel allein?

A
Leider viel zu wenig. Für Elvis bin ich einmal eine Woche alleine ins Haus meiner Schwester gefahren, als die nicht da war. Und ich bin nicht mit meiner Familie in den Urlaub gefahren, sondern war zwei Wochen hier alleine und habe geschrieben. Ich brauche Konzentration und einen Raum, in dem ich, als wäre ich ein bisschen verrückt, in meinem Kopf mit den Figuren lebe und mit der jetzigen Welt nichts zu tun habe. Dann kann ich am besten schreiben. Aber wenn man Kinder hat und Alltag und Schule, dann wird man ja ständig in das Hier und Jetzt zurückgeholt und dann kann ich nicht so gut schreiben.

Gruppenbild mit Buch

Q
Wollte sie schon als Kind Autorin werden? Oder waren Sie begeistert von Büchern?

A
Ich habe Bücher total geliebt! „Das fliegende Klassenzimmer“ und „Ronja Räubertochter“, das waren meine Lieblingsbücher. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich selber Bücher schreiben kann. Ich komme aus einem kleinen Ort. Meine Eltern waren Lehrer und ich kannte die Berufe, die in dem Ort sichtbar waren: Arzt, Apothekerin, Bäcker, Schlachter, Verkäuferin und so weiter… Aber da gab es niemanden, der Künstler war. Das kannte ich überhaupt nicht. In der fünften Klasse hatten wir mal eine Autorenlesung von einem etwas älteren Autor. Ich fand das Buch langweilig und den Autor uninteressant. Aber er sah aus, wie ein ganz normaler Typ. Der hatte eine Cordhose an und eine kahle Stelle am Hinterkopf. Und ich dachte: „Krass, der könnte eigentlich mein Nachbar sein.“ Ich dachte vorher, Autoren sind weltberühmt, uralt oder tot. Und ich dachte, das ist nichts, was man machen, was ICH machen kann. Aber nach dieser Lesung habe ich zu einer Freundin gesagt: „Ich weiß, was ich später mache. Ich schreibe Kinderbücher.“ Weil dieser Autor so normal war. Erstmal habe ich mich ewig nicht getraut. Je mehr ich mich mit Literatur beschäftigt habe, desto großartiger erschien sie mir. Ich dachte: „Oh Gott, ich kann das doch nicht wagen.“ Und dann, als ich studiert habe, da ist ein junger Autor, der in meinen Augen das schrottigste Buch der Welt geschrieben hat, ein Superstar geworden. Da dachte ich: „Okay, dann kann ich jawohl auch schreiben!“ Ich bin dem wirklich dankbar. Ich schätze ihn nicht. Aber dafür bin ich ihm wirklich dankbar.

„Erwachsene Kritiker*innen können ja alles Mögliche sagen, aber die wichtigste Meinung ist ja die von euch.“

Q
Wie finden die Leute denn Ihre Bücher so?

A
Es gibt Leute, die sagen: „Das ist doch nichts für Kinder.“ In einem meiner Bücher gibt es die Großtante, die auf Dackeljagd geht und jeden Sonntag isst sie Dackel im Salzmantel. Da wurde ich von einer Lehrerin, die sich persönlich beleidigt gefühlt hat, weil sie einen Dackel hat, schon mal fast von einer Schule geschmissen. Sie meinte: „Was wolle Sie denn? Sollen die Kinder jetzt Vegetarier werden?“ Sie hat den Kindern auch gar nicht zugetraut, dass sie das einordnen können. In einem anderen Buch ist der Ich-Erzähler ein 81-Jähriger. Da hat es ewig gedauert, bis ich das machen durfte. Meine Lektorin fand das erst komisch. Neulich lief das Buch als Hörspiel auf Deutschlandfunk und danach habe ich von einem Mann einen seitenlangen Leserbrief bekommen, weil der das so toll fand. Er hat er geschrieben: „Ihre Bücher sind eine Zumutung, weil sie dem Leser etwas zumuten.“ Und das hat er positiv gemeint. Es gibt ambivalente Figuren, die etwas tun, womit der Leser vielleicht nicht einverstanden ist. Zum Beispiel Dackel töten und essen. Aber die Figuren werden nicht als Bösewichte enttarnt, sondern die Kinder können sich selbst überlegen, wie sie das finden.

Q
Wie fühlen sich das denn an, dass Ihr Name auf den Büchern steht?

A
Das ist witzig, dass du das fragst, weil sich das im Laufe der Zeit geändert hat. Ich kann mich noch an das Gefühl erinnern, das ich hatte, als das erste Exemplar von meinem ersten Buch im Briefkasten lag. Ich dachte, ich kann nicht vor die Tür gehen. Wahrscheinlich werde ich dann vom Auto überfahren, weil so was Gutes kann es nicht geben. Und jetzt denke ich mir, ich hätte eigentlich auch ein Pseudonym nehmen können, denn ich bin echt gerne unter dem Radar.

Q
Warum heißt denn Ihr Instagram-Account Kaugummi Gräfin?

A
So hat mich mal einer genannt, der mich interviewt hat. Das fand ich total nett.

Q
Wie oft werden Sie denn interviewt?

A
Eigentlich selten. Deswegen habe ich mich gefreut, als ihr mich gefragt habt. Einmal ist Arte zu mir gekommen. Die haben einen Beitrag über mich gemacht. Aber insgesamt nicht oft. Was ich schade fand, weil zum Beispiel mit „Elvis“ habe ich versucht, ein Buch über unser diverses Berlin zu schreiben. Und ich wollte das so machen, dass es authentisch ist. Ich bin nicht sonderlich „divers“, also war das natürlich eine Herausforderung. Ich hatte gehofft, dass das gesehen wird in der Kinderliteraturkritik und ich dazu vielleicht mal befragt werde. Aber das ist gar nicht passiert. Vielleicht, weil es auf dem Buch nicht draufsteht. Es wird eher als Grusel-Buch wahrgenommen, denn als Beitrag zu unserer Gesellschaft.

Q
In dem Projekt, was wir mit Zucker & Zitrone machen, da haben wir mit mehreren Kindern ein Video gemacht zu dem Buch. Und alle Kinder sagen ihre Meinung zu dem Buch.

A
Das finde ich super. Das interessiert mich total, das ist ja die wichtigste Meinung für mich. Erwachsene Kritikerinnen können ja alles Mögliche sagen, aber die wichtigste Meinung ist ja die von euch.

Q
In dem Video sage ich zum Beispiel, das mir aufgefallen ist, dass Sie sehr viele Punkte setzten.

A
Ja. Zu viele, nicht wahr? Das habe ich auch schon gehört.

Q
Und der Kamillentee? Die Mutter von Elvis ist ja Kamillentee-süchtig. Was hat das zu bedeuten?

A
Kamillentee ist ja nicht bekannt dafür, dass es so eine schlimme Suchterkrankung ist. Aber die Mutter arbeitet kreativ. So wie ich. Ich kenne das von mir, dass ich mir manchmal einbilde, um zu schreiben, brauche ich einen ganz bestimmten Tee. Oder wenn der Kaffee morgens nicht so wird, wie ich ihn am liebsten trinke, dann kann ich es mit dem Schreiben heute sowieso vergessen. Da habe ich gedacht, das ist lustig, wenn die Mutter das in ganz extrem macht. Aber gleichzeitig ist es das Harmloseste, was man sich vorstellen kann. Aber jetzt habe ich auch mal eine Frage. Wie seid ihr denn auf das Buch gekommen?

Q
Die Leute von Zucker & Zitrone haben uns eine ganze Menge Bücher mitgebracht und wir sollten uns einen Roman aussuchen. Das Cover mit den Buchstaben, die keine Buchstaben sind, hat uns gut gefallen. Das sah interessant aus.

A
Schön! Das sage ich Tine Schulz mal. 

Originalzeichnungen von Tine Schulz