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Interview

MAJA NIELSEN & JOACHIM NEUMANN : Die Teilung im Herzen

Von Jonah (12) und Lou (12)

Immer wieder freuen wir uns über Bücher, die es gleich auf den ersten Seiten schaffen, eine unwiderstehliche Spannung aufzubauen und die große Frage kribbeln lassen: Wie wird es weiter gehen? Für eher lese-unlustige Kinder und Jugendliche ist das ein knallhartes Kriterium. Unsere Schulredakteur*innen lassen uns immerhin wiederholt wissen, dass ja sowieso klar ist, wie ungefähr die Bücher ausgehen werden: Gut nämlich. Das ist in Kinder- und Jugendbüchern ja fast immer so – sagen sie.

Im Fall von „Der Tunnelbauer“ ist es eine gleich doppelte Herausforderung, diese Welle zu surfen. Nicht nur handelt es sich um ein Buch für junge Leser*innen und ist damit generell „Happy End“-verdächtig, es beruht auch noch auf einer wahren Begebenheit. Und zwar einer, der mit Denkmälern und Touristenattraktionen gedacht wird! Wie die Geschichte ausgehen wird, ist also kein großes Mysterium. Maja Nielsen, der Autorin des Romans, ist es also mit doppelter Bravour gelungen, zu Beginn der Geschichte Spannung aufzubauen und sie auch über die ganze Länge des Romans zu halten. Jonah und Lou aus dem Redaktionsteam „Die Gottys“ haben die tolle Gelegenheit genutzt, mit Maja Nielsen und Joachim Neumann zu sprechen. Und dieser ist kein Geringerer als der echte Tunnelbauer selbst. Im Gespräch erzählen Maja Nielsen und Joachim Neumann, wie sie zueinandergefunden haben und sich dem gemeinsamen Projekt näherten. Neugierig, empathisch und souverän haben die beiden Schüler herausgefunden, welche Hoffnungen Maja und Joachim in das Buch stecken und was es für sie bedeutet, wenn es gelesen wird. Und gelesen wurde „Der Tunnelbauer“ von unserer Schüler*innen-Redaktion mit Begeisterung! 

Q
Wie kam es dazu, dass Sie diese Geschichte verfasst haben, Maja? Gab es irgendwelche Motivation oder Inspiration?

A
Maja Nielsen: Ich bin durch Zufall auf die Geschichte gestoßen. Ich wollte meiner argentinischen Schwiegertochter Berlin zeigen. Wir haben mit dem Verein Berliner Unterwelten e.V. eine Führung ins unterirdische Berlin gemacht. Dort werden auch die Fluchtwege von Ost- nach Westberlin gezeigt. Wenn man diesen Tunnel unter der Bernauer Straße sieht, kriegt man eine Vorstellung davon, wie es damals gewesen sein muss. Von den Geschichten der Tunnelbauer war ich sofort fasziniert und in den Bann gezogen. Ich hab gleich gespürt, dass das ein spannendes Thema ist. Ich habe dann erfahren, dass Joachim Neumann Zeitzeugen-Gespräche für die Stiftung „Gedenkstätte Berliner Mauer“ macht und habe Kontakt zu ihm aufgenommen. Seine Geschichte hat mich so begeistert, dass ich das Buch geschrieben habe.

“Würde ich Joachim Neumann ein Zeugnis ausschreiben, für sein Gedächtnis bekäme er eine eins plus.“
„Weder du noch ich, wir wissen beide nicht, was ich alles vergessen habe.“

Q
Wie habt ihr beide zusammen gearbeitet, um die Geschichte zu verfassen?

A
Joachim Neumann: Erzähl du mal, ich war nur der Zuarbeiter.

Maja Nielsen: Der beste Zuarbeiter aller Zeiten! Als der Kontakt zustande kam, haben wir uns verabredet und ich bin auf den nächsten Zug nach Berlin gestiegen. Die Voraussetzung, dass ein Buch gelingt, ist, dass die Chemie stimmt. Und das war bei uns gegeben. Morgens um neun bin ich zu Joachim Neumann zum Frühstück gekommen, und abends um zehn habe ich ihn verlassen. Und in den Stunden dazwischen führten wir die ganze Zeit Gespräche. Wir waren auch zur Bernauer Straße gefahren. Achim hat mir gezeigt, wo die Einstiege in die Tunnel waren. Das nächste Mal, das wir uns in Berlin getroffen haben, da hatten wir Einblick in seine Stasi-Akten. Ohne Joachim Neumann hätte mir das, was die Stasi aufgeschrieben hat, wahrscheinlich wenig gesagt. Aber er hat mir die Zusammenhänge und Bedeutungen erklärt. Dann habe ich angefangen, das erste Kapitel zu schreiben. Wenn man die Geschichte von jemand anderem aufschreibt, ist das sehr persönlich. Der andere muss mit dem, was man schreibt, einverstanden sein. Also habe ich Joachim Neumann das erste Kapitel gegeben. Er hatte keine Einwände. Er gab mir die Erlaubnis, weiterzuschreiben. Wir haben uns dann über WhatsApp verständigt. Ich habe Fragen gestellt, er hat geantwortet. Auf diese Weise habe ich ganz viele Antworten bekommen, die man nicht aus Büchern kriegt, sondern nur von Zeitzeugen, die eine gute Erinnerung haben. Würde ich Joachim Neumann ein Zeugnis ausschreiben, für sein Gedächtnis bekäme er eine eins plus. Ein besseres Gedächtnis kann man nicht haben. So entstand das Buch. Inzwischen machen wir auch Lesereisen zusammen. Und das Coolste, was wir dieses Jahr gemacht haben, ist, dass wir zusammen zu den deutschen Schulen nach Kairo gefahren sind. Nach Ägypten, da, wo die Pyramiden stehen. Und dort haben wir den Schülern der deutschen Schulen die Geschichte vorgestellt.

Joachim Neumann: Na ja, ich muss noch sagen, was mein Gedächtnis betrifft, weder du noch ich, wir wissen beide nicht, was ich alles vergessen habe. Das ist ja alles weg. Aber es hat noch gereicht, um das Buch zu füllen.

Q
Joachim Neumann, wie haben Sie denn auf das fertige Buch reagiert?

A
Joachim Neumann: Als das Manuskript fertig war, habe ich es in einem Rutsch durchgelesen. Es hat ungefähr fünf Stunden gedauert. Ich hätte es wahrscheinlich auch in vier Stunden geschafft, wenn ich nicht zwischendurch immer mal eine Pause hätte machen müssen, um mir die Augen auszuwischen. Denn es ist mir sehr nahe gegangen. Diese ganze Geschichte, die 60 Jahre zurückliegt, jetzt noch mal in Romanform zu lesen! Da ist viel an Emotionen wieder hochgekommen. Aber ich war rundum begeistert von diesem Buch.

Q
Das ist ja eine tolle Reaktion. Wirklich berührend.

A
Maja Nielsen: Wenn man als Autor weiß, in diesem Moment liest der Mensch, über den du geschrieben hast, das Buch … An dem Tag habe ich hier zu Hause gesessen und konnte nichts anderes machen. Weil du natürlich wissen möchtest: Gefällt ihm das, oder nicht? Es hätte mich schwer getroffen, wenn es dem Joachim Neumann nicht gefallen hätte.

Joachim Neumann: Meine Freunde und meine Familie, die das Buch mittlerweile gelesen haben, sehen es ganz genauso wie ich. Alles ist sehr realitätsnah und einfühlsam beschrieben. Und alle, die sich noch an diese Zeit erinnern, meine Schwester zum Beispiel, waren genauso ergriffen von diesem Buch wie ich.

Maja Nielsen: Stimmt. Das habe ich vergessen, euch zu erzählen. Ich habe ja auch die ganzen Verwandten von Joachim Neumann und viele seiner Freunde getroffen. Achims Schwester, oder seinen Freund Lampe, der als junger Mann zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Oder auch die Schwester von Chris. Ein Grund, warum Chris eigentlich nicht fliehen wollte, ist der, dass sie so an ihrer Schwester hängt. Diese kleine Schwester ist jetzt eine ältere Frau, so wie ich. Heute wohnt sie hier in der Nähe von Frankfurt und ich konnte sie treffen. All diese Menschen sind nicht nur eine Erzählung, sondern sie leben größtenteils noch.

Q
Maja, haben Sie die Zeit der DDR auch selber erlebt?

A
Maja Nielsen: Ich komme aus dem Westen. Ich bin in Norderstedt bei Hamburg groß geworden und damals bin ich mit der gesamten Schulklasse kurz vor dem Abitur nach Berlin gefahren und da gab es auch einen Ausflug nach Ostberlin. Ich bin auch mit meinen Eltern mal nach Westberlin. Es gab damals eine Transitstrecke quer durch die DDR. Ich kann mich in erster Linie noch daran erinnern, dass man an den Grenzen scharf kontrolliert wurde und dass man große Angst hatte. Als Kind wusste ich eigentlich gar nicht, wovor man Angst haben sollte. Aber diese Anspannung, diese Angst, die würden euch wahrscheinlich alle Menschen beschreiben, die damals über diese Grenze mussten.

„Achim hat mal gesagt, das, was ich dazu erfunden habe, das hätte auch wirklich so passieren können.“

Q
Im sechsten Artikel der UN-Kinderrechtskonvention steht: Du hast das Recht zu leben und dich zu entwickeln. Finden Sie, das Recht wurde in der DDR verletzt?

A
Joachim Neumann: Natürlich hatte man auch in der DDR das Recht zu leben und auch das Recht, sich zu entwickeln. Der Haken an der Geschichte war bloß, dass der Staat dir vorgeschrieben hat, in welche Richtung du dich zu entwickeln hast. Wenn du zum Beispiel lange Haare und kaputte Jeans tragen und irgendwelche verrückte Musik hören wolltest, da hat der Staat gesagt: „Nein, das gibt es bei uns nicht, das kommt überhaupt nicht infrage.“ Und du solltest dich auch zu einem treuen Staatsbürger entwickeln. Das heißt, du solltest keine andere Meinung haben als die Regierung. Und wenn du das doch hattest? Dann hast du Schwierigkeiten gekriegt bei der Ausbildung. Zum Beispiel haben sie dich nicht zum Abitur zugelassen. Und die DDR Behörden haben das natürlich so interpretiert: „Natürlich habt ihr alle das Recht, euch zu entwickeln. Wir sagen euch auch, wie ihr euch zu entwickeln habt. Also ist doch alles in Ordnung.“ Bloß ich habe das anders gesehen. Ich wollte mich ein bisschen anders entwickeln.

Q
Es gibt noch ein weiteres interessantes Kinderrecht. Das ist das Recht auf Familienzusammenführung. Wenn deine Eltern in verschiedenen Länder leben, hast du das Recht zwischen diesen Ländern hin und her zu reisen. Finden Sie nicht auch, dass dieses Recht in der DDR verletzt wurde? Wenn die Mutter in Westberlin und der Vater in der DDR lebte, da konnte man ja nicht hin- und herreisen, oder?

A
Joachim Neumann: Ja, das Recht wurde sehr verletzt. Allerdings muss man sagen, dass das sehr unterschiedlich gehandhabt wurde. Es gab zum Beispiel Fälle, wo ein Elternteil im Westen lebte, der andere mit den Kindern im Osten. Dann haben die DDR-Behörden einfach gesagt, dass die Kinder das Land nicht verlassen dürfen, weil der Elternteil aus dem Westen die Kinder im Osten ja besuchen kommen kann. Noch schlimmer war es, wenn beide Eltern im Westen waren und die Kinder im Osten. Auch das ist vorgekommen. Dann hat es meistens sehr lange gedauert, bis man den Kindern die Ausreise in den Westen gestattet hat: drei, vier oder sogar fünf Jahre. Und wenn die Eltern illegal aus der DDR abgehauen sind und ihre Kinder zurückgelassen haben, hat es auch Fälle gegeben, dass diese Kinder nicht nachreisen durften, sondern zur Adoption freigegeben wurden. Die leiblichen Eltern wussten dann nicht, wo ihre Kinder geblieben sind. Eine böse Geschichte. Ich kenne niemanden persönlich, dem das passiert ist. Aber diese sogenannten Zwangsadoptionen sind ein schlimmes Kapitel der DDR. Das ist auch vor die Menschenrechtskommission der UNO gekommen. Da hat es viel Ärger gegeben.

Q
Wenn die Eltern nach Westberlin illegal gereist sind, wo haben sie die Kinder denn dann gelassen? Mussten die sich dann selbst versorgen?

A
Joachim Neumann: Wenn das Kind Glück hatte, den konnte es bei den Großeltern bleiben, sofern es noch Großeltern gab. Wenn es Pech hatte, kam es in ein Heim und was dann passierte, war ganz unterschiedlich. Manche Kinder durften dann nach einigen Jahren zu den Eltern ausreisen und manche Kinder, insbesondere kleine Kinder, wurden zu Pflegeeltern gegeben, die sie dann adoptieren durften.

Q
Und wenn die Eltern nicht geflohen sind, wie kann das passieren, dass die Kinder in der DDR wohnen und die Eltern nicht?

A
Joachim Neumann: Zum Beispiel haben sich die Eltern scheiden lassen und ein Elternteil, zum Beispiel der Vater, ist in den Westen gegangen und die Mutter war mit den Kindern in der DDR. Wenn dann die Mutter starb, wäre eigentlich der Vater der Sorgeberechtigte gewesen und die Kinder hätten zu ihrem Vater gehen müssen. Und das hat die DDR immer versucht zu verhindern.

Q
Ist Ihre Geschichte genauso passiert wie im Buch beschrieben? Oder habt ihr für das Buch etwas an der Geschichte verändert?

A
Maja Nielsen: Ein paar Dinge habe ich verändert. Zum Beispiel habe ich vieles zeitlich gerafft. Einfach, damit sich das besser liest. Aber der Kern der Geschichte ist echt. Achim hat mal gesagt, das, was ich dazu erfunden habe, das hätte auch wirklich so passieren können.

Q
Also wurden nur kleine Sachen verändert?

A
Maja Nielsen: Manchmal auch größere. Zum Beispiel erzähle ich im Buch, wie das Auto, in dem Achims Schwerster Bea versteckt nach Westberlin flieht, an der Grenze untersucht wird und sie Todesangst hat, entdeckt zu werden. In Wirklichkeit ist diese Flucht nicht ganz so dramatisch abgelaufen. Das Buch richtet sich an Jugendliche, die diese Zeit nicht miterlebt haben und ich wollte aufzeigen, was damals alles zur Realität dazu gehörte.

Joachim Neumann: Die Geschichte, die Maja beschreibt, ist aber tatsächlich an anderer Stelle einer anderen Frau passiert. Sie ist also echt passiert, bloß nicht meiner Schwester.

„Diese Angst bleibt in den Menschen wohnen und macht sich immer noch in ihnen breit.“

Maja Nielsen: Sie ist jetzt 87 Jahre alt. Da könnt ihr sehen, wie viel Jahre diese Angst in den Menschen wohnen bleibt und sich immer noch in ihnen breit macht.

Joachim Neumann: Das ist auch heute noch so. Sie fährt nicht mit Aufzügen.

Maja Nielsen: Was der Bea aber passiert ist, ist, dass sie nach ihrer Flucht in Aufzügen immer Angst bekam. Das beschreibe ich auch im Buch. Diese Platzangst kommt daher, dass sie in dem Fluchtwagen eingeschraubt worden ist.

Q
Wie lange hat es gedauert, das Buch zu verfassen?

A
Maja Nielsen: Drei Monate.

Q
Drei Monate habt ihr euch über WhatsApp geschrieben oder waren Sie zwischendrin noch mal in Berlin?

A
Maja Nielsen: Das war alles im Vorfeld. Das eigentliche Schreiben habe ich im Januar begonnen. Im März war ich damit fertig. Aber da wusste ich schon ziemlich genau, worum es geht. Die ganze Recherche war abgeschlossen. Wenn man schon so viel weiß, dann fängt die Fantasie an zu arbeiten.

Q
In welchen Situationen schreiben Sie denn?

A
Maja Nielsen: Ich schreibe immer dann, wenn ich nicht unterwegs bin. Als Autor macht man viele Lesereisen. Ein paar Monate im Jahr, bin ich immer viel unterwegs. Und jetzt beginnt meine nächste Schreibphase. Die geht bis Anfang Oktober. Und im Oktober und November bin ich dann fast nonstop unterwegs.

Q
Also haben sie auf jeden Fall viel zu tun.

A
Maja Nielsen: Ja, aber ich mag das auch ehrlich gesagt sehr gern, wenn es ein bisschen kesselt um mich herum.

Q
Joachim, wie lange hat es gedauert, die Tunnel zu bauen? Und hatten Sie keine Angst, dass der Tunnel einstürzt oder sie verraten werden?

A
Joachim Neumann: Die Tunnel dort in der Bernauer Straße, sind alle so um die 140, 150 Meter lang. Das Graben hat jeweils vier bis fünf Monate gedauert. Angst, dass der Tunnel einstürzt, hatten wir nicht. Der Boden dort war so fest, dass man ihn kaum lösen konnte. Also man musste mit ganzer Kraft mit den Füßen den Spaten reindrücken. Der Boden war so hart, da stürzte nichts ein.

„Dass wir verraten werden, davor hatten wir große Angst.“

Q
Also war es bei dem Boden noch schwerer zu graben, als wenn das jetzt weicher Boden gewesen wäre?

A
Joachim Neumann: Ja, auf jeden Fall. Der weichere Boden hätte natürlich den Vorteil gehabt, dass man hätte schneller graben können. Aber man hätte dann wahrscheinlich die Erde abstützen müssen, damit einem das Zeug nicht auf den Kopf fällt.

Q
Womit haben Sie eigentlich gegraben?

A
Joachim Neumann: Mit einem ganz normalen Spaten, so wie man ihn bei der Gartenarbeit hat. Wir haben uns auf den Rücken gelegt, um mit den Füßen den Spaten in Erdreich zu drücken. Denn mit den Armen hast du das einfach nicht geschafft. In den Beinen hast du mehr Kraft und du hast das ganze Körpergewicht dahinter. Sonst hätte man den Spaten überhaupt nicht reingekriegt in diesen harten Boden. Dass der Tunnel einstürzt, davor hatten wir also keine Angst. Aber dass wir verraten werden, davor hatten wir große Angst. Natürlich haben wir versucht, uns so zu verhalten, dass keiner merkt, was wir da machen. Außerdem haben wir natürlich versucht, nur solche Leute mitmachen zu lassen, auf die wir uns verlassen konnten.

Q
Hatten Sie Angst, dass ihre Eltern vielleicht festgenommen werden, weil sie geflohen sind?

A
Joachim Neumann: Ja, das konnte man nicht so ganz ausschließen. Aber ich habe meine Eltern ja vorher informiert. Und sie waren damit einverstanden. Das fand ich erst mal schon sehr gut, dass meine Eltern das wussten. Ich hätte es, glaube ich, auch kaum übers Herz gebracht, einfach so wegzugehen und zu sagen: „Tschüss, bis nachher“ und nie wiederzukommen. Dadurch, dass sie informiert waren, konnten sie sich auch ein bisschen darauf vorbereiten, dass sie verhört werden. Und das ist ja dann auch passiert.

Q
Zu welchen Zeiten haben Sie denn immer gegraben?

A
Maja Nielsen: Sieben Tage die Woche. 24 Stunden am Tag in Schichten. Die haben da unten über viele Wochen gelebt und sind nur ganz selten mal ans Tageslicht gekommen. Die Bernauer Straße wurde ja von Wachtürmen aus dem Osten beobachtet. Und so blieb ihnen nichts anderes übrig.

Q
Gab es einen Punkt, wo sie dachten, ich wäre jetzt lieber zu Hause und hätte was anderes gemacht? Oder kam ein Punkt, wo Sie einfach dachten, jetzt würde ich aufhören?

A
Joachim Neumann: Nein, diesen Punkt, den gab es nicht, weil ich fest entschlossen war, meine Freundin rüber zu holen. Und es war mir klar, dass das eine schwierige und sehr langwierige Geschichte ist. Aber allein an sie zu denken, war immer Motivation für mich genug, um weiterzumachen. Und außerdem, wenn man nun schon so viel gegraben hat, dann hört man ja auch zwischendurch nicht einfach auf. Wenn du irgendwas anfängst und plötzlich hast du keine Lust mehr und hörst auf? Also das wäre ja sehr blöd gewesen.

Q
Haben Sie immer noch Kontakt zu den Freunden von damals, die auch in der Geschichte erwähnt werden?

A
Joachim Neumann: Ja, selbstverständlich. Die meisten kenne ich noch aus meiner Schulzeit. Sofern sie noch leben, sind wir immer noch sehr eng befreundet und treffen uns häufig. Bis vor einigen Jahren, als wir alle noch nicht ganz so alt und noch viel fitter waren, haben wir auch viel zusammen unternommen. Wir waren wandern usw. Das ist jetzt natürlich nicht mehr so arg, weil wir jetzt lieber zu Hause sind und eine ruhige Kugel schieben. Aber Kontakt haben wir noch.

„Wenn du irgendwas anfängst und plötzlich hast du keine Lust mehr und hörst auf? Also das wäre ja sehr blöd.“

Q
Und Maja, welches Ihrer eigenen Bücher ist denn Ihr liebstes?

A
Maja Nielsen: Ich mag ehrlich gesagt alle meine Bücher. Ich habe ja 27 Sachbücher geschrieben. Diese Bücher haben mich mit hochinteressanten Zeitzeugen, Forschern, Astronauten, Schatzgräbern, Wrack-Tauchern, Vulkanforschern zusammengebracht. Ich mag meine Bücher alle. Ich kann sie auch uneingeschränkt empfehlen.

Q
Und wie stehen Sie denn selber zum Thema DDR und finden Sie, die Jugend von heute sollte alle Geschichten kennen und wissen, wie es früher war und wie man früher gelebt hat?

A
Maja Nielsen: Mir ist besonders wichtig, dass man einander seine Geschichten erzählt. Unsere Geschichte ist ein Puzzlestückchen. Es gibt noch ganz viele Puzzlestückchen. Bis ein klares Bild entsteht, muss man viele davon zusammensetzten. Aber gerade in meiner Generation sprechen die Leute gar nicht miteinander, sondern nur übereinander. Ich würde mir wünschen, dass mein Buch ein Anlass ist, einander die eigenen Geschichten zu erzählen und dadurch ein bisschen näher zusammenzurücken. In unserer Generation ist die Teilung Deutschlands im Herzen immer noch nicht richtig überwunden. Und das ist ja etwas, was ich mir eigentlich wünsche.

Q
Wie kam es denn dazu, dass sie Autoren wurden. Wollten Sie als Kind schon Autorin werden?

A
Maja Nielsen: Ich habe eigentlich gar nicht gewusst, dass ich schreiben konnte. Ich bin nach der Schule auf eine Schauspielschule gegangen und habe erst mal ein paar Jahre Theater gespielt. Als meine zwei Söhne Jan und Nicki geboren wurden, da wollte ich mehr zu Hause sein. Im Theater hast du ein unregelmäßiges Leben. Mir war klar, dass ich das als Mutter von zwei Söhnen nicht hinkriege. Da habe ich angefangen, für meine Kinder Geschichten zu erzählen. Das passte besser zu meinem Leben.

Q
Wann haben Sie Kinder bekommen? Wie alt waren Sie da?

A
Maja Nielsen: Ich war mittelalt, 30 Jahre. Und mein Sohn wird dieses Jahr auch 30. Da kannst du dir ganz leicht ausrechnen, wie lange ich schon schreibe. Denn ich habe für Kindergartenkinder angefangen, Geschichten zu schreiben. Und jetzt zum Beispiel „Der Tunnelbauer“, der wird auch von meinem 30-jährigen Sohn noch gerne gelesen.

„In unserer Generation ist die Teilung Deutschlands im Herzen immer noch nicht richtig überwunden.“
„Es ist gar nicht selbstverständlich, dass wir in einer Demokratie und in Freiheit leben.“

Q
Möchten Sie uns vielleicht noch etwas Wichtiges sagen, für die Leser und Leserinnen von diesem Interview?

A
Maja Nielsen: Achim, du sagst manchmal, warum du meinst, dass Jugendliche sich mit der Geschichte auseinandersetzen sollen. Das fände ich jetzt eigentlich noch ein schönes Schlusswort.

Joachim Neumann: Also erst mal möchte ich sagen, dass ich mich freue und auch ein bisschen stolz darauf bin, dass ihr gerade dieses Buch, meine Geschichte euch ausgesucht habt. Denn ganz offensichtlich habt ihr interessant gefunden, was ich damals vor 60 Jahren erlebt habe. Ich hätte damals nie gedacht, dass ich im hohen Alter noch mal zu der Ehre komme, hier in einem Buch verewigt zu werden. Und ich finde es einfach wichtig, dass die jungen Generationen davon heute noch etwas mitkriegen. Und zwar möglichst authentisch, also von Leuten, die dabei gewesen sind. Vielleicht lernt man dabei, darüber nachzudenken, dass es gar nicht so selbstverständlich ist, dass wir hier in einer Demokratie und in Freiheit leben. Gerade in Deutschland hat es schon andere Zeiten gegeben. Und wenn so etwas wieder kommen sollte, was ich natürlich überhaupt nicht hoffe, dann ist es an jedem Einzelnen, insbesondere an den Jüngeren, sich zu überlegen, was man dagegen tun kann und nicht einfach zu resignieren und weiterzumachen wie bisher. Wenn meine Geschichte, die Maja Nielsen hier so schön aufbereitet hat, dazu einen Anstoß gibt, darüber nachzudenken, dann glaube ich, ist schon ein ganz wesentlicher Zweck dieser Sache erfüllt.

ACHTUNG!