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MUNDO AZUL : Culture Club
Die Dichte an Buchläden in Berlin ist eine bemerkenswert hohe. Gut so, laden diese Orte doch zum Austausch und Aufatmen ein und bilden auf diesem Weg eine unaufgeregte, haptische Erlebniswelt, die es online halt so nicht geben kann. Viele von ihnen sind thematisch hoch spezialisiert und so liebevoll eingerichtet, aufgestellt und kuratiert, dass man sich problemlos den ganzen Tag in ihnen aufhalten könnte - und eine der schönsten (und vielleicht wichtigsten) befindet sich in der Choriner Str. 49 in Berlin-Prenzlauer Berg: die internationale Kinderbuchhandlung Mundo Azul.
Ins Leben gerufen wurde diese Stätte von der in Argentinien geborenen Mariela Nagle, die aufgrund ihrer Expertise zudem als Dozentin Vorträge zu bildungs- und literaturrelevanten Themen hält, Workshops zu Issues wie bspw. Mehrsprachigkeit gibt, Bibliotheken, Museen, Messen, Stiftungen und Verlage berät und sich nebenbei in der Berliner Flüchtlingshilfe engagiert. Wie sie die Energie aufbringt, zudem mal eben ihren Buchladen zu kuratieren, bleibt auf ewig ihr Geheimnis.
Wir hatten die Möglichkeit, Mariela Anfang Juli vor Ort zu treffen, um mehr über ihren Werdegang und die Vielschichtigkeit Mundo Azuls zu erfahren.
Mariela, wie kommt man denn aus der argentinischen Provinz nach Berlin? Das war 1997, oder?
Nee, 1997 bin ich nach Deutschland gekommen … Berlin kam einige Jahre später, in 2003, um ganz genau zu sein. Ich hatte in Argentinien Anglistik studiert und bin nach dem Studium zunächst nach England gegangen. Von dort aus zog es mich nach Italien, wo ich für eine Flüchtlingsorganisation - damals ging es um Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien - gearbeitet habe. Zwischendurch hatte ich meinen späteren Ex-Mann in München kennengelernt und so fand ich mich dann wiederum ein paar Jahre später in Deutschland wieder. Das ist die Kurzform. Es war nie mein Plan, in Europa oder gar in Deutschland zu bleiben. Ich arbeite jedoch viel mit Sprachen und da fällt es glücklicherweise nicht schwer, sich beruflich zu entwickeln, weiter zu entwickeln und gegebenenfalls spontane Entscheidungen zu treffen. Ich hatte nach wie vor viel in Lateinamerika zu tun und die ursprüngliche Idee war eigentlich, kurz in Deutschland Station zu machen, um dann nach Brasilien zu gehen, was mich sehr gereizt hätte. Aber dann ist es halt doch anders gekommen.
Dass du dann in Berlin hängen geblieben bist, war also eher ein Zufall?
Das kann man so auch nicht sagen … in erster Linie wollte ich einfach nicht in München bleiben. Zum anderen hat mir Berlin schon immer gut gefallen, ich habe mich sofort zu Hause gefühlt und tue es immer noch. Ich bin ein wenig blauäugig hier angekommen, hatte kein offizielles Projekt, an dem ich arbeiten konnte. Mein Projekt zu dieser Zeit waren meine Kinder - mein ältester Sohn war zu dieser Zeit drei Jahre alt und ich war mit seinem Bruder schwanger. Die Entscheidung für Berlin war also zunächst weniger beruflich getrieben als vielmehr von dem Wunsch bestimmt, für meine Familie ein Umfeld zu schaffen. Und so wuchsen beide hier auf. Es ist fast schon ein wenig ironisch, dass mein Ältester nun zum Studium nach München gegangen ist.
„Meine Idee war eigentlich, eine Art kleines Kulturzentrum für spanisch-deutsche Familien aufzubauen - und keine Buchhandlung."
Mundo Azul eröffnen zu wollen?
Und wie kommt man dann dazu, einen hoch spezialisierten Buchladen wieUm ehrlich zu sein, war das zunächst weder eine Herzensangelegenheit noch dass ich eine einmalige Chance beim Schopf gegriffen hätte. Ich war arbeitslos und hatte mir verschiedene Möglichkeiten ausgemalt, welchen beruflichen Schritt ich als Nächstes angehen sollte. Ich habe dann eine Frau kennengelernt, die hier im Kiez, in Prenzlauer Berg, gerade einen Laden für Kinderkleidung aufgemacht hatte - dort gab es sehr viel Platz und sie fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, Projekte in den Räumlichkeiten umzusetzen. Meine Idee war eigentlich, eine Art kleines Kulturzentrum für spanisch-deutsche Familien aufzubauen … und keine Buchhandlung. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich allein eine Handvoll Bücher vor Ort. Dann habe ich wiederum eine Französin kennengelernt, die den Raum mieten wollte, um ein ähnliches Projekt für französisch-deutsche Familien umzusetzen.
Neben diesen Aktivitäten hatte ich dann die Idee, einen kleinen Buchladen zu integrieren, repräsentativ zu dem, was bei den Kulturabenden passiert. Von kleinen Verlagen, Bücher, die man nicht überall bekommt inklusive der deutschen Titel. Als ich kurze Zeit später in neue Räumlichkeiten gezogen bin, konnte ich bereits ein Buchangebot auf spanisch, französisch, englisch und deutsch anbieten. Und irgendwann hatte sich diese Idee manifestiert und so kam es dazu, dass wir arabische und hebräische Titel sowie Bücher in vielen anderen Sprachen dazu holten. Das Konzept im heutigen Laden unterscheidet sich dann aber doch recht stark von den Anfängen - was identisch geblieben ist, ist der Wunsch, eine Community zu bauen, sich über den Laden zu vernetzen und auszutauschen.
Heute ist der Laden jedoch nicht mehr meine eigentliche Hauptaktivität, Mundo Azul ist eher wie eine Art Showroom, eine Art Visitenkarte für meine vielen weiteren Aktivitäten. Die Projekte, die ich für oder mit anderen Parteien entwickle, haben jedoch identische Themen, da geht es um Diversität, andere Blickwinkel auf Literatur und Kunst und Mehrsprachigkeit. Sprich, Projekte, die mit Vielfalt zu tun haben. Und so arbeite ich momentan beispielsweise für die Frankfurter Buchmesse, für eine in Berlin ansässige Stiftung und viele weitere Institutionen. (lacht) Bei mir ist alles stetig im Wandel und das ist eigentlich auch so gewollt, sonst würde ich mich schnell langweilen.
Begriffe wie Diversität und Inklusivität waren ja praktisch Alleinstellungsmerkmal deiner Arbeit. Diese sind nun im allgemeinen Vokabular angekommen und je nach Blickwinkel fast schon zur Floskel verkommen. Nervt dich das?
Es nervt mich schon ein wenig, vielleicht auch, weil ich den Markt so gut kenne. Jeder, der sich mit den Themen tiefer gehend beschäftigt und der Entwicklung folgt, ist diesbezüglich einigermaßen genervt. Es ist ein super Tool für den Markt geworden. Heutzutage kommen Leute in den Laden und fragen, ob ich Bücher mit Poc (People of Color - Anm. d. Red.) vorrätig habe. Es fühlt sich ein bisschen wie der Flavour of the Month an, es verkauft sich einfach gerade sehr gut. Ich arbeite viel mit Bibliotheken und Universitäten zusammen und gebe auch Seminare über eben dieses Thema. Es geht dabei immer noch vordergründig um Hautfarbe, ich versuche das jedoch anders anzugehen, da die Vielfältigkeit guter Literatur nichts anderes zulässt.
Es gibt ein Phänomen, nicht allein in Deutschland, sondern weltweit: Illustrator*innen werden damit beauftragt, Poc zu zeichnen und in die Geschichte zu integrieren, was ja erst einmal eine gute Sache ist. Die Illustrator*innen sind dabei jedoch dieselben: Europäisch und weiß. Und da wird’s dann halt problematisch. Wo also stehen wir gesellschaftlich mit dem Thema Vielfalt? Es ist eine Diskussion, die gerade omnipräsent ist. Nach wie vor wird für meinen Geschmack zu zaghaft hinterfragt, wer einen bestimmten Titel geschrieben oder illustriert hat und wer eigentlich hinter dem Verlag steht.
Es gibt zum Glück sehr gute Beispiele von Verlagen heutzutage, gerade aus England, die anders sind, die sich anders aufstellen, die andere Strukturen haben. Verlagsleitungen, die einen anderen kulturellen Hintergrund haben und die dann wiederum Projekte initiieren, durch die Minderheiten Möglichkeiten zum Schreiben und Zeichnen gegeben wird.
In unseren Breiten wird noch zu viel gesprochen und zu wenig gehandelt. Aber man muss natürlich auch einlenken und sehen, wie sehr wir uns weiterentwickelt haben, wenn man es mit dem Stand vor zehn Jahren vergleicht. Gerade bei den Kinderbüchern ist diese Entwicklung klar sichtbar. Inklusivität muss jedoch auch andere Communities jenseits von momentanen Diskussionen erreichen.
„Bücher zu verkaufen, das mag ich eigentlich gar nicht so gerne. Mit meinen Büchern rauszugehen, um Diskussionen anzuregen, schon viel mehr."
Merkst du, dass deinem Buchladen aufgrund besagter momentaner Diskurse mehr Aufmerksamkeit zukommt?
Mundo Azul, ich kann das Geschäft eigentlich nicht so richtig als Buchhandlung bezeichnen. Du kommst herein und merkst sofort, dass es hier irgendwie anders ist. (lacht) Und du fragst dich wahrscheinlich, wer diese Art von Bücher überhaupt kauft. Aber die Arbeit, die dahinter steckt, das Kuratieren und die vielen Projekte, die dadurch ausgelöst werden, sind mir das eigentlich Wichtige. Einfach, weil sich dies aus der Arbeit nährt, die ich in den vergangenen fünfzehn Jahren geleistet habe.
Ich teile mir die Räumlichkeiten mit einem kleinen Verlag, RAUM Italic … allein wäre das zu teuer und es würde viel zu viel Mühe machen, das alles zu unterhalten. Um so etwas wie Mundo Azul am Leben zu erhalten, muss man schon sehr idealistisch sein. (lacht) Und stur. Es gab Jahre, wo ich den Laden trotz hoher Schulden einfach weiter betrieben habe. Das Ergebnis heute: Ich bin eine Art Nische, die zwischen den Kulturen verknüpft ist, was mir erlaubt, andere Projekte außerhalb des Ladens umzusetzen. Viele Leute, die hier reinkommen, sehen natürlich nur einen Buchladen … es braucht immer ein bisschen länger zu erklären, was das hier eigentlich wirklich ist. So wie wir das hier gerade machen.
Klingt fast danach, als hättest du eine Art von symbiotischer Beziehung mit deinem eigenen Laden: er erscheint wie ein notwendiger Luxus, der es dir ermöglicht, Dinge umzusetzen, die dir am Herzen liegen.
Mit einer von besagten Stiftungen entwickle ich beispielsweise gerade ein Buch für eine Community in Mexiko, welches nicht verkauft, sondern kostenlos verteilt werden wird. In diesem Buch geht es um die Wünsche der vor Ort ansässigen Menschen und dieses Projekt läuft parallel mit dem aufbauen einer Bibliothek, da es dort bislang keine gibt.
Ich arbeite zudem für die Staatlichen Museen zu Berlin, dort recherchiere und kuratiere ich die Bücher, die ausgestellt werden - beispielsweise für Ausstellungen im Humboldt Forum, wo mein Fokus logischerweise auf Rassismus und Postkolonialismus liegt.
Gerade das Humboldt Forum stand ja lange Zeit in der öffentlichen Diskussion. Hattest du da nicht Bedenken, dass sich das schlussendlich auf deine Arbeit, auf deine Person, niederschlägt?
Na klar! Das Team dieser Institution hat sich jedoch sehr geändert, ist selbstkritisch … und darum holen sie jemand wie mich mit ins Boot. Ich mag das eigentlich sehr gerne, nur von Innen kann man die Dinge verändern und alte Strukturen aufbrechen. Ich mache diesen Job bereits seit drei Jahren und habe sehr viel in dieser Zeit gelernt, gerade auch, weil ich dort mit Leuten zusammenarbeite, die oft anders denken, wo man nicht sofort einen gemeinsamen Nenner findet. Mittlerweile besteht das Team nicht nur aus deutschen Akademikern, wie man es sich vielleicht in der Öffentlichkeit vorstellt, sondern aus vielen internationalen Kulturschaffenden. Das Team ist inzwischen fast ein bisschen visionär.
„Ohne die Unterstützung meines Team - Frauen, die genauso leidenschaftlich und hoch motiviert sind wie ich - wäre Mundo Azul nicht möglich, das ist ganz klar."
Zum Abschluss möchte ich dich nach dem kuratorischen Prozess innerhalb des Mundo Azul-Universums fragen. Kümmerst Du dich in erster Instanz um das Bücherangebot oder steckt, da du ja gerne im Team arbeitest, ein festes Kollektiv dahinter?
Bologna, wo ich immer mehr Verleger*innen kennengelernt habe. Ich habe dann damit begonnen, mich schlauzumachen: Wie funktioniert hier der Markt für Kinderliteratur? Wie wird bestimmt, was seinen Weg in die Regale findet, was veröffentlicht wird? Wie viel Zensur gibt es? Wie wahr ist es, was Europäer beispielsweise über den Iran zu wissen denken? Jahr für Jahr habe ich das aufgebaut, was heute den Buchladen repräsentiert.
Manchmal muss man aus ethischen Gründen die Zusammenarbeit mit einem Verlag beenden … doch glücklicherweise gibt es eigentlich immer Alternativen. Heutzutage arbeite ich zum Beispiel mit IBBY-Iran, eine unabhängige Institution, die viel Recherchearbeit abnimmt, wenn es darum geht, mit bestimmten Verlagen zusammenzuarbeiten oder ob dies eigentlich nicht vertretbar erscheint. Und so gestaltet sich das auch mit Südkorea oder anderen entfernten Orten. Zu Beginn lief das noch recht holperig, wenn man die Sprache nicht beherrschte … heute gibt es ja gut funktionierende Tools, die bei der Übersetzung helfen.
Wie du also siehst, geht es mir oft nicht um die eigentliche Geschichte, um das Buch Ansicht, sondern viel mehr darum, wer hinter dem Verlag steht. Was vertrete ich, wenn ich bestimmte Titel mit ins Programm nehme? Inzwischen kenne ich in den meisten Verlagen, mit denen ich zusammen arbeite, die Leute im Hintergrund und ihren Backkatalog. Wenn TUTI Books mir zum Beispiel vier neue Bücher empfiehlt, kann ich das blind bestellen, da ich Verantwortlichen sehr gut kenne und viele Gespräche im Vorfeld stattgefunden haben.
(Lacht) Aber wer macht denn so was? Das ist ein wahnsinniger Aufwand. Wie ich schon sagte, man muss sehr idealistisch sein, um einen Laden wie Mundo Azul aufzubauen und am Laufen zu halten. Und wahrscheinlich ein kleines bisschen verrückt.