Auf der Suche nach dem besten Buch der Welt.
Interview

Tobias Elsäßer : Schichtwechsel im Ohrensessel

Von Dorka (15 Jahre)

Um Bücher zu schreiben, gibt es für Tobias Elsäßer den perfekten Ort: den Ohrensessel mit dem schnarchenden Hund zu Füßen. Im leichten Dämmerzustand denkt er freier und ohne Schere im Kopf. 

Dieser Sessel ist so inspirierend, dass er schon mal mit seiner Frau darüber diskutiert, wer darin sitzen darf. Hier entwirft er schöne Geschichten für Kinder, mit denen er den Schrecklichkeiten dieser Welt entfliehen kann und harte Storys für Jugendliche, in denen er das Schreckliche direkt zu sich an den Schreibtisch holt. Ja, Tobias Elsäßer will mit seinen Jugendbüchern den Leser*innen durchaus etwas zumuten. Sein Roman „Mute“ ist eine intensive Abhandlung über Wissenschaft, Kunst und Spiritualität und erzählt von Identität und dem Zweifel der Erinnerung. Während gerade Tobias Elsäßers Frau den Ohrensessel okkupiert, nimmt er sich die Zeit mit Dorka, einer Schülerin der Paula Fürst Gemeinschaftsschule in Berlin über seine Arbeit zu sprechen. 

Q
Ist die Geschichte von „Mute“ komplett frei erfunden, oder versteckt sich darin auch ein Teil von dir, aus deinem Leben?

A
Die Geschichte ist fiktiv. Der einzige Teil, der nicht erfunden ist, ist die Grundidee. Ich habe früher Gesangsunterricht gegeben und eine meiner Schülerinnen war adoptiert. Ich habe miterlebt, wie sie immer damit haderte, nicht zu wissen, woher sie eigentlich kommt. Ihre Adoptiveltern hielten es für besser, ihr nichts über ihre Herkunft zu verraten. Irgendwann bekam sie Zugang zu ihren Akten und hat festgestellt, dass ihre Mutter nur zehn Kilometer entfernt lebt. Sie hat erfahren, dass sie noch vier Geschwister hat und als einzige zur Adoption freigegeben wurde. Das alles hat sie natürlich sehr beschäftigt.

„Wir gehen immer davon aus, dass ein materiell sicheres Leben das glücklichere Leben ist. Aber stimmt das überhaupt?“

Q
Ist diese Gesangsschülerin also die Vorlage für die Hauptfigur Espe?

A
Nein, das würde ich nicht sagen. Tatsächlich hat mich nur die Frage interessiert, was Adoption für Menschen bedeutet. Adoptierten Menschen stellt sich immer die Frage, wie dieses andere Leben mit den leiblichen Eltern hätte verlaufen können. Wie geht man damit um? In den westlichen, reichen Ländern gehen wir immer davon aus, dass ein materiell sicheres Leben das glücklichere Leben ist. Aber stimmt das überhaupt? Welches Leben ist denn glücklicher? Ist es wirklich das an einer „besseren“ Schule, in einem „besseren“ Umfeld? Oder kann es auch das „ärmere Leben“ sein, das vielleicht durch ganz andere Faktoren erfüllt ist?

Q
Es klingt, als ob du beim Schreiben am Anfang ein Thema festgelegt hast und daraus die Figur entsteht. Ist das immer deine Herangehensweise?

A
Ich weiß am Anfang meist gar nichts, außer eine Grundidee und einem Grundgefühl. Oft ist es ein Thema, das mich interessiert. In diesem Fall war es das Thema Adoption und die Frage, wie Kinder mit schlimmen Erfahrungen umgehen. Gerade gibt es weltweit so viele Kriege, in denen Kinder traumatische Dinge erleben. Wie kann ein Kind, das einen Teil seiner Herkunft nicht kennt oder Schlimmes erlebt hat, zurück ins Leben und einen Weg in die Zukunft finden? Beim Schreiben bin ich tatsächlich sehr chaotisch. Ich habe Unmengen Notizbücher und ganz viele Ideen. Bei „Mute“ hatte ich vielleicht 1000 Seiten Recherchematerial. Dann beginnt in meinem Kopf die Idee zu wachsen. Der Plot, also die Handlung, ist für mich erst mal unerheblich. Zuerst entstehen die Figuren. Es hat zwei Jahre gedauert, das Buch zu schreiben. Ich habe mir die Zeit genommen, die Geschichte wachsen zu lassen.

Q
Du bist auch Sänger und Musiker. Schreiben und Musik sind zwei völlig unterschiedliche Künste. Aber eigentlich eine schöne Ergänzung. Was machst du lieber?

A
Für mich ist das nicht getrennt, es gehört zusammen. Sprache hat immer Rhythmus und Melodie und ich überlege mir auch, was meine Heldinnen und Helden für Musik hören. Ich schreibe mehr, als dass ich Musik mache, weil ich mit dem Schreiben mein Geld verdiene. Musik mache ich für mich und manchmal bei Veranstaltungen, wenn es gefragt ist. Gerade darf ich für die Stuttgarter Philharmoniker für eine Kinderoper das Libretto (der Text einer Oper, Anm. der Redaktion) schreiben. Es ist wirklich spannend, wie sich Text und Musik zusammenfügen und wie alles miteinander verflochten sein kann.

Q
„Mute“ heißt ja auch stummschalten. Wie bist du auf den Buchtitel gekommen?

A
Ich habe mich Folgendes gefragt: Wenn man schlimme Erfahrungen im Leben gemacht hat, die man gerne vergessen möchte, könnte es vielleicht eines Tages möglich sein, solche Erinnerungen einfach stummzuschalten? Das hängt natürlich mit dem zweiten Handlungsstrang der Geschichte zusammen. Espes Vater, so viel sei verraten, ist Biomediziner, der schon lange daran forscht, ob man eine Art der „Psychotherapie“ digitalisieren könnte und ob es dann die Möglichkeit gäbe, einzelne Erinnerungen stummzuschalten. Das ist der Science-Fiction-Anteil meiner Geschichte. Wobei: Dadurch, dass KI jetzt auf dem Vormarsch ist, gibt es auch in der Biotechnologie große Sprünge. Der mRNA-Impfstoff gegen Corona war schon so ein Quantensprung. Man geht derzeit davon aus, dass man irgendwann anhand von verschiedenen Blutbildern sehen kann, wo zum Beispiel die Anlage eines Menschen für Depressionen oder andere psychische Erkrankungen liegt. Meine Idee für die Geschichte war, dass schwerwiegende Erinnerungen durch eine chemische Manipulation im Gehirn nicht mehr angesteuert werden können und sie dadurch in der Bibliothek der Erinnerungen verloren gehen.

Q
Lebt man beim Schreiben auch ein bisschen in seiner eigenen Fantasie und nimmt die Realität gar nicht mehr wahr?

A
Das wäre die schönste Vorstellung für mich. Aber ich nehme immer noch zu viel aus dieser seltsamen Realität wahr. Es gibt solche Momente und sie sind wirklich schön. Ich finde, man schreibt dann am besten. Aber leider ist das zu selten der Fall. Die Welt ist, mit all dem, was gerade so passiert, wahnsinnig anstrengend. Deswegen wünsche ich mir manchmal, viel weniger im „Außen“ zu sein. Ich sehe so wenig Lösungen bei den großen Problemen dieser Welt. Dann möchte ich einfach in einem Text verschwinden. Wobei „Mute“ kein leichter Text, sondern eher schwere Kost ist. Es knabbert einem hoffentlich auch beim Lesen an der Seele. „Mute“ ist keine Fantasywelt, in die man fliegen will, um vor der Wirklichkeit zu fliehen. Aber dennoch: Der Fluchtimpuls aus der Realität ist für mich wichtig, um gut an einem Text arbeiten zu können. Tatsächlich arbeite ich gerade an zwei Texten. An einem Jugendbuch und einem Kinderbuch. Das Kinderbuch ist für die Seele, gerade auch für mich, um die Welt da draußen auszublenden, mit all dem Schrecklichen. Und das Jugendbuch holt das Schreckliche direkt zu mir an den Schreibtisch. 

Q
Ich habe in der Schule auch Aufsätze geschrieben. Da hatte ich so viele Ideen auf einmal, dass ich sie kaum unterbringen konnte. Manchmal schreibe ich dann so schnell, dass ich einzelne Wörter einfach vergesse aufzuschreiben.

A
Ja, dieser Flow! Das ist das Beste! Es ist ein faszinierendes Gefühl, dass man gar nicht weiß, woher aus dem Kopf das kommt, was plötzlich auf dem Papier steht. Deswegen lege ich allen, die schreiben wollen, gar nicht das Bücherschreiben ans Herz, sondern das Schreiben an sich. Wir leben in einer wahnsinnig schnellen Zeit, und die Geschwindigkeit, mit der wir heute online Entscheidungen treffen und von einem zum nächsten Post geführt werden, ist viel zu hoch für unser Gehirn. Und am Ende hat man ja auch meist so ein komisches Gefühl. Was habe ich hier gerade angeschaut? Was hat es mit mir gemacht? Beim Schreiben hat man etwas da stehen und kann es noch mal lesen und versteht es jeden Tag vielleicht ein bisschen anders und auch besser. Schreiben ist sehr cool.

„Für mich bedeutet Schreiben, bereit dafür zu sein, viel zu erleben, viel auszuprobieren, vielen Menschen zu begegnen. Worüber will man sonst schreiben?“

Q
Schreibst du am Rechner oder handschriftlich?

A
Beides. Es ist mir wichtig, mit der Hand zu schreiben, weil es komplett anders ist als Tippen. Ich habe sehr viele Notizbücher. Dummerweise kaufe ich mir immer diese schönen, teuren Dinger. Und wenn ich dann anfange und mir etwas nicht gefällt, dann brauche ich einen Neubeginn. Es sind nur 20 Seiten voll und ich muss das nächste Notizbuch kaufen.

Q
Liest oder schreibst du lieber?

A
Ich schreibe viel lieber. Ich lese auch gerne, aber ich finde Schreiben schon echt super. Es ist faszinierend und sinnstiftend. Wenn man es sich überlegt, ist es natürlich eigentlich Blödsinn, Bücher zu schreiben. Es gibt schon alles, genau wie in der Musik. Aber mich erfüllt es mit Lebenssinn.

Q
Wenn du dann liest, sind es Romane, Liebesgeschichten oder eher Krimis und Science-Fiction?

A
Ich lese alles. Spannend finde ich auch Tagebuchaufzeichnungen oder Briefwechsel von berühmten Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Man versteht den Menschen einfach viel besser. Wenn man ein Buch von einer Person liest, deren Tagebuch man kennt, dann wird einem noch viel mehr klar, dass Autoren ganz oft ihr eigenes Leben ein Stück weit beschreiben.

Q
Ich weiß nicht, ob ich Autorin sein könnte. Ich brauche Action im Leben. Da bin ich nicht sicher, ob Schreiben das Richtige für mich wäre.

A
Ich brauche auch Action. Das kann ich dir sagen. Ich bin auch in dem Sinne kein klassischer Autor. Wir haben oft Klischeebilder von Schriftstellern und Schriftstellerinnen im Kopf. Für mich bedeutet Schreiben, bereit dafür zu sein, viel zu erleben, viel zu sehen, viele Sachen auszuprobieren und vielen Menschen zu begegnen. Worüber will man sonst schreiben? Ich sitze drei, vier Stunden da und arbeite. Dann treffe ich mich mit Leuten, bin unterwegs auf Lesereisen oder mache Workshops. Ich bin in meinem Leben auch viel durch die Welt gereist. Ich brauche immer Abwechslung. Monatelang nur zu Hause zu sitzen, könnte ich nicht. Da würde ich wahnsinnig werden.

Q
Was machst du denn für Workshops?

A
Alles, was mit Schreiben zu tun hat. Szenisches Schreiben, Songwriting, alles Mögliche, bis hin zu Lyrik. Ich habe da eine sehr große Bandbreite. Hauptsächlich gebe ich Workshops für Jugendliche, aber es sind auch Studierende dabei. Ich habe z. B. schon mal die Jugendjury vom Deutschen Jugendliteraturpreis begleitet und mit ihnen Texte geschrieben. Ich finde es wichtig, dass die Menschen, die in der Position sind, Preise zu vergeben, selbst auch mal probiert haben, wie das Schreiben funktioniert.

Q
Seit wie vielen Jahren schreibst du schon? Schon, seit du klein bist?

A
Meine Mutter ist Französin, sie hat nach der siebten Klasse in Frankreich die Schule abgebrochen, ist von zu Hause abgehauen, hat als Köchin gearbeitet und dann als Fabrikarbeiterin hier in Deutschland. Mein Vater ist Bauzeichner, hat aber immer behauptet, er sei Architekt. Ich komme aus einer Familie, in der Bücher und Kultur keine große Rolle gespielt haben. Sport war mein Ding. Als Jugendlicher war ich auf einem Teilzeitinternat für Handballer und wollte Profi werden. Dann kam die Musik, und darüber das Schreiben. Angefangen hat es mit Songtexten. Das waren für mich kleine Geschichten. Ich hätte mich aber nie getraut, ein Buch zu schreiben. Bis ich 16 war, habe ich vielleicht fünf Bücher gelesen.

„Zum Schreiben braucht man keine Vorbildung. Das Schreiben gehört allen.“

Q
Wie bist du denn dann Autor geworden?

A
Ich bin erst spät und zufällig Autor geworden. Ich hatte davor viel erlebt. Mit Anfang 20 war ich mit meiner damaligen Band viel auf Tour. Darüber habe ich später meinen ersten Roman geschrieben. Und nur deshalb, weil meine damalige Freundin gesagt hat: „Das ist so interessant, was du immer erzählst, willst du es nicht mal aufschreiben?“ Und das habe ich gemacht. Und so habe ich gemerkt, Schreiben darf man auch, wenn man gar nicht studiert hat oder selber gar kein Büchernerd war. Jeder kann zu jeder Zeit anfangen zu schreiben. Egal, ob man auf das Gymnasium geht oder nicht. Ich habe einmal mit jugendlichen Straftätern Texte geschrieben. Die Texte waren unverblümt. Teilweise waren sie krass, aber es war so eine Ehrlichkeit in ihnen, dass sie einen wirklich getroffen haben. Man hat gemerkt, dass manchmal wenige Worte reichen, um zu sagen, was man meint. In Frankreich ist Kultur etwas sehr Lebendiges. Hier in Deutschland wird Kultur mit Elite und Bildung in Verbindung gebracht. Das ist totaler Quatsch. Zum Schreiben braucht man keine Vorbildung. Das Schreiben gehört allen. Und es muss auch allen gehören. Deswegen ist es mir wichtig, dass meine Bücher von allen gelesen werden können.

„Wir sind ja ständig alle superwach. In einem leichten Dämmerzustand ist man nicht so brutal zu sich selbst. Das ist gut fürs Schreiben.“

Q
An welchem Ort schreibst du am liebsten?

A
Ich schreibe in unserem Wohnzimmer, da steht ein Ohrensessel. Der ist aber gerade von meiner Frau belegt, die gerade ihren ersten Jugendroman schreibt. Wir haben einen alten Hund und der schnarcht immer wunderbar. Diese Ecke mit dem Ohrensessel und dem schnarchenden Hund davor finden wir beide sehr inspirierend. Manchmal streiten wir uns darum, wer darin arbeiten kann.

Q
Schichtwechsel im Ohrensessel! Aber stört diese Gemütlichkeit nicht auch manchmal beim Arbeiten?

A
Nein. Ich finde, so ein leichtes Dämmern ganz interessant. Wir sind ja ständig alle superwach. Superwach bedeutet aber auch, dass man noch viel kritischer mit dem umgeht, was man tut und denkt. In einem leichten Dämmerzustand ist man nicht so brutal zu sich selbst. Das ist gut fürs Schreiben.