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Was für eine Betonhitze! Inmitten des flirrenden Berliner Sommers machen die Geschwister Tâm und Dennis einen beunruhigenden Fund. In einem Gebüsch am Rande ihrer verschlafenen Wohnsiedlung in Berlin-Lichtenberg entdecken sie einen einzelnen abgetrennten Finger. Im Laufe ihrer Nachforschungen kommt es zu einer verstörenden Begegnung mit einem geheimnisvollen Mädchen: Das „Mädchen...
Was für eine Betonhitze! Inmitten des flirrenden Berliner Sommers machen die Geschwister Tâm und Dennis einen beunruhigenden Fund. In einem Gebüsch am Rande ihrer verschlafenen Wohnsiedlung in Berlin-Lichtenberg entdecken sie einen einzelnen abgetrennten Finger. Im Laufe ihrer Nachforschungen kommt es zu einer verstörenden Begegnung mit einem geheimnisvollen Mädchen: Das „Mädchen vom Parkplatz“ ist die zwei Jahre ältere Hoa Binh und sie ist auf der Flucht. Aber auf der Flucht vor wem? Ohne zu ahnen, auf was sie sich eingelassen hat, beschließt Tâm, ihr zu helfen.
„Der verkehrte Himmel“ von Mikael Ross ist eine scharf gezeichnete, vielschichtige und aufwühlende Geschichte aus dem Großstadtdschungel Berlins – nur ein zufälliger Knotenpunkt im dicht verfilzten Gewirr von Schicksalslinien. Die pointierten, lässigen Zeichnungen und die teils witzigen, teils spannenden Momente lassen diese große, traurige Graphic Novel poppig glühen: ganz so,...
„Der verkehrte Himmel“ von Mikael Ross ist eine scharf gezeichnete, vielschichtige und aufwühlende Geschichte aus dem Großstadtdschungel Berlins – nur ein zufälliger Knotenpunkt im dicht verfilzten Gewirr von Schicksalslinien. Die pointierten, lässigen Zeichnungen und die teils witzigen, teils spannenden Momente lassen diese große, traurige Graphic Novel poppig glühen: ganz so, wie das Cover es verspricht.
Einen abgeschnitten Finger im Gebüsch zu finden, das haben Alex und Tâm bestimmt nicht erwartet, als sie nachsehen wollten, was aus dem Fenster des vorbeifahrenden Wagens geflogen ist. Auftakt für einen Sommer, der die beiden mit mehr Fragen als Antworten zurücklassen wird und mit einigen offenen Wunden. Aber auch gewachsen und gereift, mit einem neuen Verständnis für die Schutzbedürftigkeit ihrer Mitmenschen.
Tâm lebt mit ihrem Bruder Dennis und den Eltern in einer Plattensiedlung in Berlin-Lichtenberg, dort, wo die Schulen nicht mal richtige Namen haben. Die Eltern betreiben ein Restaurant, sprechen kaum Deutsch und hauen gerne vietnamesische Sinnsprüche raus, die mit Fleiß und Anstand zu tun haben. Tâm selbst kann die vietnamesische Schrift kaum noch entziffern. Dafür braucht sie die Hilfe ihres großen Bruders Dennis. Die beiden sind Viet-Deutsche und der Detailreichtum ihrer Lebenswelt kriegt Futter aus unterschiedlichen Traditionen und Religionen, dem Lichtenberger Flair und einer globalisierten Popkultur. Zwar geht dabei einiges verloren – wie die Fähigkeit, die vietnamesische Schriftsprache zu lesen – es entsteht auch eine neue (jugendliche) und aufregende transkulturelle Realität von der Mikael Ross nicht nur am Beispiel von Tâm und Dennis erzählt. Er beobachtet die Sprache und Gestik der Jugend so gekonnt, als wäre er selbst nicht 40, sondern noch mittendrin.
Da sind die rotzigen Rollergirlz mit Zahnspange und Pferdeschwanz, die zwar klein sind, aber sich nichts vormachen lassen. Da ist der großspurige, hasenfüßige Satanist Dennis, der in Angst vor der toughen Marina lebt. Die fährt Mottorrad, Kickboxt, spricht Denglisch in poetischer Kunstfertigkeit und will Dennis derart rabiat an die Wäsche, dass dem ganz anders wird. Seine pickligen Kumpels, die ihm in der Sportumkleide ständig Fotos von heißen Asiatinnen unter die Nase halten, leben auf einem völlig anderen Stern. Und dann ist da noch der einsame Alex. Typ Mobbingopfer und quasi elternlos. Das asthmatische Kerlchen mit blondem Topfschnitt und großen Träumen ist immer im Spionagetraining. Und in diesem Unterfangen stoßen er und Tâm auf besagten Finger – und auf das Foto einer jungen Frau, die Tâm erst neulich gesehen hat: auf einem Parkplatz eingeschlossen in ein Auto. Tâm macht sich mit der Hilfe von Alex und Dennis auf die Suche nach dem Mädchen und findet Erschreckendes heraus. Hao Binh, nur wenig älter als Tâm, hat sich aus Vietnam auf den Weg in den Westen gemacht. Warum sie das tat, wieso sie sich dabei dem skrupellosen Menschenhändler Boris anvertraute und welchen Preis sie dafür zahlen musste, das berichtet sie Tâm, der ersten tief menschlichen Person, der sie auf ihrer Odyssee begegnet. Nun ist Hao Binh auf der Flucht und Tâm möchte ihr unbedingt helfen. Doch Boris ist keiner, der so leicht aufgibt.
Jede Seite in diesem Comic ist dicht bepackt mit den Themen, die das vielseitige und differenziert erzählte Personal mit sich bringt. Es geht um erste Liebe, Freundschaft und Mut, um Einsamkeit, brüchige Eltern-Kind-Beziehungen, um Vorbilder und Mobbing. Es geht um Solidarität, Machtlosigkeit und Hoffnung. Und es geht um Rassismus, Prostitution und Menschenhandel. Man könnte denken, dass sich diese Fülle an Themen gegenseitig überfrachtet oder dass der Versuch des erwachsenen weißen Autors, eine Geschichte über jugendliche BIPoC zu schreiben, zu ambitioniert sei. Aber nichts davon ist der Fall. Durch seine Arbeit als Aushilfslehrer, durch Interviews, die er mit Organisationen und Viet-Deutschen führte, durch vielseitige Recherche und respektvolle Annäherung ist es Mikael Ross gelungen, in die Welten einzutauchen, die er beschreibt. Aus dem vielen Fäden seiner Geschichte knüpft er ein feines Kunstwerk. Statt sich im Wege zu stehen, bringen die verschiedenen Handlungsstränge und Motivationen sich gegenseitig zum Schwingen. Die Dichte dieser Geschichte führt den Beweis, wie überwältigend das Lebens in der Großstadt ist. Die vielen Menschen, deren Lebenswege sich kreuzen und beeinflussen, müssen hart darum kämpfen, sich im Gewimmel nahe zu kommen und aneinander festzuhalten.
- Mia Grau
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