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Sam und ihre Brüder sind anders als die meisten. Doch im Vergleich zu ihrer Mutter Stigne sind sie geradezu normal. Sam findet: Wegen ihrer schrillen Schrulligkeit trägt ihre Stigne die Schuld daran, dass Sam überall gemobbt wird. Dort, wo sie früher gelebt haben und auch jetzt in Gørja, diesem seltsamen Städtchen, das alle paar Jahre von monatelangen Stürme heimgesucht wird, in dem Kinder spurlos verschwinden und ein gruseliger alter Mann gespenstisch durch die Wälder streift.
Weil Stigne so weltfremd ist und nicht begreift, was sie ihrem Kind antut, geht Sam auf Distanz. Im Klassenzimmer ist Sam allerdings nicht die einzige Außenseiterin. Da ist auch noch Karla mit den dreckigen Klamotten und den ungekämmten Haaren. In ihr findet Sam eine echte Freundin. Doch im Gegensatz zu Sam bewundert Karla Stigne.
Das komische, fleischige Essen, das sie kocht; die genialen, nerdigen Maschinen, die sie baut; die komischen Klamotten, die sie trägt; das alles findet Karla superspannend. Vielleicht erzählt Sam ihr deswegen nicht davon, dass sie langsam Angst vor ihrer Mutter bekommt? Stigne wird nämlich immer kontrollsüchtiger. Sie zwingt Sam dazu, Fitness-Übungen zu machen, besonders fettreich zu essen, Anabolika zu nehmen. Alles nur, damit Sam zunimmt. Was hat Stigne vor? Und was meint sie damit, wenn sie sagt, sie habe Sam zum Fressen gern? Und hat sie etwas mit dem Verschwinden von Sams Klassenkamerad Truls zu tun? Oder ihrem Kaninchen Ole?

Schräg, gruselig und spannend schreibt Julia Kahrs in ihrem preisgekrönten Mystery-Roman von Freundschaft, Familie und kindlichen Angst-Fantasien. Denn hat Karla recht, wenn sie glaubt, dass der geheimnisvolle Kjetil Winkel doch noch durch Gørja streift und Kinder raubt, obwohl er inzwischen 130 Jahre alt sein müsste? Und fürchtet sich Sam zu Recht vor ihrer Mutter? Oder steigern sich die beiden nur in etwas hinein?

Sam deutet alles, was ihre Mutter tut und sagt nur in eine Richtung: Sie glaubt, ihre Mutter will ihr Böses. Das ist zugleich die Stärke und die Schwäche des Buches, denn dadurch bewegt sich die Glaubhaftigkeit der Geschichte manchmal auf einem schmalen Grat. Das die Wildheit und Seltsamkeit von Kahrs' Geschichte trotzdem nicht auseinanderbricht, liegt letztendlich an den tollen Charakteren und dem Vertrauen der Autorin in die Einbildungskraft von jungen Menschen. Kahrs nimmt das Gefühl von aufsteigender Angst absolut ernst und vollzieht Sams wachsende Projektion Schritt für Schritt nach. Dabei legt sie Fährten in beide Richtung: Sam könnte recht haben, aber vielleicht irrt sie sich auch. Nicht jede Angst ist begründet und trotzdem kann Unglaubliches hinter seltsamen Ereignissen stecken.

Obwohl die Handlung gar nicht besonders viel Action bietet, ist das Buch rasend spannend. Unbedingt will man wissen, ob Sam und Karla mit ihren Vermutungen richtig liegen und ob Truls wieder auftaucht. Das seltsame, unemotionale Verhalten der Erwachsenen und die gleichzeitige Tatkraft und Schicksalsergebenheit der Kinder befeuert die schrill-düstere Stimmung des Romans. Der Sturm über Gørja tobt bald auch in der Fantasie der Lesenden.

„Sturm überm Winkelhaus“ ist ein ungewöhnliches, gruseliges und spannendes Buch für nicht allzu zart besaitete. Im Zweifelsfall ist es ein hervorragendes Vorlesebuch zum gemeinsamen Rätseln und Vermutungen anstellen.

- Mia Grau