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Nach oben kommen. Das war immer der Plan. Seit Jahrhunderten. Dafür hat sie, dafür haben alle vor ihr gekämpft. Und als Schwarze Frau stand ihr letztlich nur ein Weg offen: Völlige Verausgabung, Oxbridge, Londoner Hochfinanz, ein Freund mit Geld so alt und dreckig wie das Empire. Doch als sie endlich...
Nach oben kommen. Das war immer der Plan. Seit Jahrhunderten. Dafür hat sie, dafür haben alle vor ihr gekämpft. Und als Schwarze Frau stand ihr letztlich nur ein Weg offen: Völlige Verausgabung, Oxbridge, Londoner Hochfinanz, ein Freund mit Geld so alt und dreckig wie das Empire. Doch als sie endlich eingeladen wird, Mitglied einer Familie, Angehörige einer Klasse, Teil eines Landes zu werden, muss sie am eigenen Körper erfahren, dass die erlittenen Ungerechtigkeiten tiefere Wurzeln geschlagen haben. Wie kann sie sich retten? Wie mit dem Erbe der Geschichte leben?
Natascha Browns Debütroman ist eigentlich gar kein Jugendbuch. Zumindest ist es nicht als solches beworben. Aber was genau macht ein Jugendbuch aus? Was unterscheidet es von einem Erwachsenenroman? Die Sprache? Das Thema? Das Marketing?
In „Zusammenkunft“ geht es um Identität, um Rassismus, um sexuelle Belästigung und die Frage, was man bereit...
Natascha Browns Debütroman ist eigentlich gar kein Jugendbuch. Zumindest ist es nicht als solches beworben. Aber was genau macht ein Jugendbuch aus? Was unterscheidet es von einem Erwachsenenroman? Die Sprache? Das Thema? Das Marketing?
In „Zusammenkunft“ geht es um Identität, um Rassismus, um sexuelle Belästigung und die Frage, was man bereit ist zu opfern, um in einer Gesellschaft angenommen zu werden, die kein Interesse an einem hat. Das alles sind Fragen, die viele Jugendliche und junge Erwachsene beschäftigen, vor allem solche, die beispielsweise aufgrund ihrer Hautfarbe aus der Mehrheitsgesellschaft herausstechen. Wer also möchte 16-, 17-, 18-jährigen, die sich für das Thema interessieren, davon abraten, dieses Buch zu lesen? Niemand. Im Gegenteil!
Die Sprache ist so direkt, als würde sie gerade aus dem Mund der namenlosen Ich-Erzählerin kommen, andererseits ist der Text dicht und in Bruchstücken arrangiert, wie ein kunstvoller Blumenstrauß. Schnell wird man in diese Geschichte hineingeworfen und stellt sich ganz auf die Perspektive der Protagonistin ein: Eine schöne, erfolgreiche und junge Schwarze Frau, die wie eine Forscherin ihr Leben seziert. Sie betrachtet distanziert und wie durch eine Lupe sich selbst und die Menschen, denen sie begegnet. Dabei springt sie zwischen Erinnerungen, Beobachtungen und Reflexionen hin und her. Sie schildert in sachlichem Ton rassistische oder sexistische Übergriffe. Verstörend ist, dass sie niemals aufbegehrt. Sie kann sogar die Beweggründe der Täter nachvollziehen. Sie ist den alltäglichen Rassismus und Sexismus so gewöhnt, dass sie sich nicht mehr darüber aufregt. Die Verletzung ist über die Jahre viel tiefer gegangen. Ihre Oberfläche ist unverwundet, doch im Inneren ist sie ausgehöhlt, beschädigt und ganz konkret: Vom Krebs zerfressen.
Eine Schwarze Frau in einer von Weißen Männern dominierten Welt. Sie muss – um als Frau nicht hysterisch, als Schwarze nicht animalisch und in beidem nicht bedrohlich zu wirken – jeden Ärger herunterschlucken, immer bescheiden, immer höflich bleiben. Sie ist in England geboren, doch mit dem ständigen Verdacht behaftet, von woanders zu kommen, ohne emotionale Verbindung zum Herkunftsland ihrer Vorfahren und zugleich tief in deren Schuld. Denn die Generationen vor ihr haben gekämpft und überlebt, damit sie es einmal besser haben kann. Diesen Plan muss sie erfüllen, das ist keine Frage des Wollens. Und sie hat es geschafft: Sie hat eine Karriere, Geld, eine schicke Eigentumswohnung und einen reichen Freund. Den Preis, den sie dafür zahlen musste, ist Anpassung bis zur Aufgabe der eigenen Identität. Wie ein Zombie bewegt sie sich automatisiert in einer feindlichen Umgebung. Und als sie die Krebsdiagnose erhält, beginnt sie sich zu fragen, ob sie nicht aufhören sollte zu kämpfen. Der Krebstod scheint ihr plötzlich eine Möglichkeit zu sein, den „endlosen Aufstieg“ zu beenden.
Die Autorin selbst, die mit ihrer Protagonistin einige biografische Eckdaten teilt (Migrationshintergrund, 1A Schülerin, Mathematikstudium und Karriere im Finanzwesen) hat einen sehr viel produktiveren Ausweg aus einer vergleichbaren Situation gefunden: Sie hat einen schonungslosen, aufrüttelnden, kunstvollen Roman geschrieben, und damit ihr Einverständnis in den Anpassungskampf verweigert.
Die Erzählerin, die für alle als Alibi dient (für ihren weißen Freund, der politische Ambitionen hat, als Beweis seiner Liberalität und für die Bank, für die sie arbeitet, als Diversitäts-Aushängeschild) hält in Schulen Vorträge zur Motivation und betet den Schülerinnen vor, was sie tun müssen, um aufzusteigen: Härter arbeiten als die anderen und sich mehr anpassen als die anderen. Und sie leidet zunehmend darunter, wie gut sie in diesen Vorträgen performt. Müsste sie den Schülerinnen nicht ehrlich gegenüber sein und, statt das Verlangen nach schicken Autos und teuren Klamotten anzufeuern, den Preis der Selbstaufgabe vorrechnen? Ihr Freund rät davon ab und spricht sich dafür aus, dass sie ihre Botschaft in einer persönlichen Geschichte verpacken sollte. Genau das tut Natascha Brown nun in ihrem Roman – und tut es nicht, weil sich ihre Protagonistin so vehement dem Lebensglück verweigert und damit natürlich kein Vorbild für junge Menschen sein kann, die aufbrechen wollen in ihr zukünftiges Leben.
Und genau wegen dieser Offenheit und Rätselhaftigkeit ist das Buch ein Muss für junge Menschen, die sich mit der Protagonistin identifizieren können oder sie nachvollziehen wollen. Es bevormundet die Leser*innen nicht und behauptet auch nicht, einen Leitfaden für den gelungenen Aufstieg oder die Selbsterfüllung zu kennen. Der Roman zeigt auf, welchen zusätzlichen Gefahren People of Color ausgesetzt sind und stellt fest, dass sie mit den Empfindungen, die diese Erfahrungen auslösen, nicht alleine sind. Das Buch wirft die Frage auf, ob der blinde Versuch sich anzupassen nicht ein Kapitulieren vor dem rassistischen System ist. Damit ermöglicht „Zusammenkunft“ jungen Menschen etwas, dass der Ich-Erzählerin nicht möglich ist: Sich einen anderen Lebensentwurf auszumalen und Alternativen zur allgemeinen „friss oder stirb“-Mentalität auszuloten.
- Mia Grau
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