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Ein Mädchen träumt sich jede Nacht in die Welt ihrer Großmutter, die ist stark wie ein Bär und lieb wie ein Kuchen. Der Ort, an dem die bemerkenswerte Dame lebt, ist „seltsam düster“. Vampire, Hexen, Fledermäuse und Käfer hausen hier. Zum Fürchten ist er trotzdem nicht. Großmutter bringt den Insekten mithilfe ihrer Gitarre das Fliegen bei und braut verletzten Tieren Zaubertränke. Auch um die eigenwillige Botanik kümmert sie sich. Sie zähmt die Träume sprechender Bäume durch Vorlesegeschichten und pflegt ihren Garten, in dem seltene Pflanzen wachsen, deren Genuss Überraschungen verspricht. Der psychedelische Look des Buches gewinnt hier für die erwachsenen Vorlesenden eine ganz eigene Bedeutungsebene.

Weiß, hell- und dunkelblau, orange, gelb, rosa und grau. Mehr Farben braucht es nicht für die kräftigen Illustrationen von Julia Kluge. Rund-eckig sind ihre Formen. Die Farben sind flächig, mit gesprühten Schattierungen. Alles ist ein bisschen krude, ein bisschen bonbonartig. Fröhlich und doch auch „seltsam düster“, wie es der Text verspricht. Ebenso kantig wie die Zeichnungen ist der gereimte Text. Mit altmodisch anmutenden Worten wie Gewächs, verzagt, Reigen oder trällern, ungewöhnlichen Wortbildern und sperrigen Satzkonstruktionen entführt Julia Kluge in eine ganz eigene Welt.

Geht es in diesem Buch um Träume? Seltsam, geheimnisvoll, manchmal bedrohlich und manchmal auf machtvolle Weise schön? 
Geht es um Einschlafrituale? Stellt sich die Frage, wo der Tagtraum endet und wo der Nachttraum beginnt?
Geht es um die Angst vor der Dunkelheit? Um die Frage, wann sich die Furcht vor dem Unbekannten in Verlockung verwandelt? Ob böse Wesen wirklich böse sind oder ob sie nur einen schlechten Ruf haben?
Oder geht es um die Sehnsucht nach einer verstorbenen Großmutter, die nun „in Gedanken lebt“? An die sich das Kind jeden Abend erinnert, um mit dieser großartigen Großmutter die tollsten Abenteuer zu erleben?

Dies sind alles berechtigte Deutungsmöglichkeiten. Kinder finden vielleicht noch bessere. Es könnte zum Beispiel auch ums Bärentrösten gehen. Oder darum, was man alles können kann, obwohl es niemand glauben möchte. Oder darum, welche Geheimnisse die Nacht birgt. Oder um die Frage, was „Großmuttergesetze“ sind. Oder darum, wovon Bäume träumen und wer Käfern das Fliegen lehrt.

„Wo dichte Äste wild sich ranken“ von Julia Kluge erschien bei Rotopol, dem schönen Spezialverlag für speziell schöne Bücher. Hier hat das Bilderbuch berechtigt eine Heimat gefunden.

- Mia Grau